finden wir bei genauer Vergleichung gewisse Unterschiede in der Größe und Gestalt der meisten Organe zwischen dem Menschen und Menschenaffen; allein dieselben oder ähnliche Unterschiede entdecken wir auch bei der sorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menschenrassen, ja sogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen Individuen unserer eigenen Rasse. Wir finden nicht zwei Personen, welche ganz genau dieselbe Größe und Form der Nase, der Ohren, der Augen usw. haben. Man braucht bloß aufmerksam in einer größeren Gesellschaft diese einzelnen Teile der menschlichen Gesichtsbildung bei zahlreichen Personen zu vergleichen, um sich von der erstaunlichen Mannigfaltigkeit in deren spezieller Gestaltung zu überzeugen. Oft sind ja bekanntlich selbst Geschwister von so verschiedener Körperbildung, daß ihre Abstammung von einem und demselben Elternpaare kaum glaublich erscheint. Alle diese individuellen Unterschiede beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körperbau; denn sie sind nur bedingt durch geringe Verschiedenheiten im Wachstum der einzelnen Teile.
Drittes Kapitel. Unser Leben.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende Physiologie. Übereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen und der Säugetiere.
Unsere Kenntnis vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbständigen, wirklichen Wissenschaft erhoben. Diese »Lehre von den Lebenstätigkeiten«, die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerte, ja notwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Tätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierigkeiten stieß.
Der Begriff des Lebens, im Gegensatz zum Tode, ist natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den lebendigen Tieren eine Anzahl von eigentümlichen Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den »toten« Naturkörpern fehlten: selbständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Atemzüge, Sprache usw. Allein die Unterscheidung solcher »organischen Bewegungen« von ähnlichen Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich, daß der naive Naturmensch auch diesen »toten Körpern« ein selbständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen konnte man sich bei den letzteren ebensowenig befriedigende Rechenschaft geben als bei den ersteren.
Menschliche Physiologie. Die ältesten wissenschaftlichen Betrachtungen über das Wesen der menschlichen Lebenstätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über den Körperbau des Menschen) bei den griechischen Naturphilosophen und Ärzten im sechsten und fünften Jahrhundert v. Chr. Die reichste Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Tatsachen finden wir in der Naturgeschichte des Aristoteles.
Der Ruhm, die vorhandenen Kenntnisse einheitlich zusammengefaßt und den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus, den wir auch als den ersten großen Anatomen des Altertums kennen gelernt haben. Bei seinen Untersuchungen über die Organe des menschlichen Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren Lebenstätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er vergleichend und untersuchte vor allem die menschenähnlichsten Tiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er erkannte auch bereits den hohen Wert des physiologischen Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühlsseligen Gemütsmenschen vielfach auf das heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Methoden der Lebensforschung und haben uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben.
Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch für seine Physiologie das System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christentums bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntnis die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte, selbständig wieder die Lebenstätigkeiten der Menschen zu untersuchen und über das System von Galenus hinauszugehen. Erst im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von angesehenen Ärzten und Anatomen gemacht. Aber erst im Jahre 1628 veröffentlichte der englische Arzt Harvey seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige, unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle unablässig durch das kommunizierende Röhrensystem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harveys Untersuchungen über die Zeugung der Tiere, infolge deren er den berühmten Satz aufstellte: »Alles Lebendige entwickelt sich aus einem Ei« (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen Werke »Elementa physiologiae« begründete er den selbständigen Wert dieser Wissenschaft und nicht nur in ihrer Beziehung zur praktischen Medizin. Indem aber Haller für die Nerventätigkeit eine besondere »Empfindungskraft oder Sensibilität« und ebenso für die Muskelbewegung eine besondere »Reizbarkeit oder Irritabilität« als Ursache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrtümliche Lehre von einer eigentümlichen »Lebenskraft«.
Lebenskraft (Vitalismus). Über ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb in der Medizin, und speziell in der Physiologie, die alte Anschauung herrschend, daß zwar ein Teil der Lebenserscheinungen auf physikalische und chemische Vorgänge zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Teil derselben durch eine besondere, davon unabhängige Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So verschiedenartig auch die besonderen Vorstellungen vom Wesen derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der »Seele« sich ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der gewöhnlichen »Materie« unabhängig und wesentlich verschieden sei; als eine selbständige, der anorganischen Natur fehlende »Urkraft« sollte sie die ersteren in ihren Dienst nehmen. Nicht allein die Seelentätigkeit selbst, die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, sondern auch die Vorgänge der Sinnestätigkeit, der Fortpflanzung und Entwickelung erschienen allgemein so wunderbar und in ihren Ursachen so rätselhaft, daß es unmöglich sei, sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse zurückzuführen.
Der Mechanismus des Lebens (Monistische Physiologie). Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philosoph Descartes, fußend auf Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der Tiere eine komplizierte Maschine sei, und daß ihre Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menschen allein eine vollkommene Selbständigkeit der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive Empfindung, das Denken, für das einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz sichere Kenntnis besitzen (»Cogito, ergo sum!«). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im einzelnen die Erkenntnis der mechanischen Lebenstätigkeiten vielseitig zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli (1660) die Bewegungen des Tierkörpers auf rein physikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius, die Vorgänge bei der Verdauung und Atmung als rein chemische Prozesse zu erklären. Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen,