Er musste noch schlafen. Gut so. Die vergangenen Tage hatten nicht nur Marshall bis an die Grenze seiner Belastungsfähigkeit gebracht.
»Aber damit geben wir uns natürlich nicht zufrieden«, fuhr Sue fort. »Im Pain Shelter geben wir uns nie zufrieden. Wir suchen immer neue Möglichkeiten, uns nützlich und finanziell unabhängig zu machen. Unsere neueste Einnahmequelle – lachen Sie nicht – sind Einkaufswagen. Wir sammeln sie aus den Straßengräben auf, in denen sie früher oder später landen, bringen sie wieder in Schuss und verkaufen sie an die großen Malls.«
Sie gingen durch die Halle, vorbei an Damon und Tyler. Die Zwillinge montierten zusammen ein Fahrrad, gemeinsam in die Arbeit versunken. Niemand wäre bei dem Anblick auf die Vermutung gekommen, dass sie noch am Vortag im Begriff gewesen waren, einander aufzuschlitzen.
»Unser Ideal ist die Gemeinschaft. Jeder von uns leistet der Gemeinschaft Dienste, so gut es in seinen Möglichkeiten steht, und kann dafür die Dienste der Gemeinschaft in Anspruch nehmen ... und das ist höchst lohnenswert, wie Sie gleich in der Küche am eigenen Leib feststellen können!«
Eine süße Creme mit Früchten und gekühltes Wasser wartete auf die Touristen in der großen Küche des Shelters. Eigentlich wäre die Creme erst in einer Stunde auf dem Programm gestanden. Nach einem Gang durch das gesamte Haus und einem Vortrag Marshalls über die Motive und Ziele der Human Health Foundation. Sue, die spürte, wie mitgenommen Marshall war, kürzte die Führung ab, um ihn zu schonen.
Sue war unglaublich. Marshall nahm Blickkontakt mit ihr auf, um ihr zu danken. Es waren Kinder wie Sue, Momente wie diese, die ihm die Kraft gaben, durchzuhalten.
»Haben Sie Fragen?«, erkundigte sich Sue, nachdem sich jeder der Touristen eine Schale genommen hatte.
Eine junge Frau mit Rucksack meldete sich. »Die Kinder, die wir gesehen haben, sind beinahe Erwachsene. Was wird aus ihnen, wenn sie den Shelter verlassen?«
Sue lachte. »Den Begriff ›Kinder‹ darf man nicht zu eng auslegen. Wir orientieren uns an der Hilfsbedürftigkeit.« Sie machte eine nachdenkliche Pause, legte die Stirn in Falten. »Was aus uns wird? Unterschiedlich. Viele schaffen es, sich draußen eine Existenz aufzubauen. Manche straucheln. Das ist traurig, und jeder, der scheitert, ist einer zu viel. Aber: Ohne den Shelter würde es keiner von uns schaffen. Allein auf der Straße zu leben bedeutet eine erbärmliche kurze Existenz.«
»Was ist mit Disziplin?«, fragte einer der Asiaten. Sein Englisch war ohne wahrnehmbaren Akzent. »Gibt es nicht oft Streit und Konflikte?«
»Ehrlich gesagt: Es vergeht keine Stunde ohne. Aber wo gibt es das nicht? Bislang haben wir es noch immer geschafft, uns wieder zusammenzuraufen. Die Emotionen schlagen hoch, doch glauben Sie mir: Wir wissen, was wir am Shelter haben.«
Der bucklige Mann räusperte sich. »Sie haben vorhin gesagt, in Greater Houston gäbe es mehr als zehntausend Straßenkinder?« Sein Akzent war britisch.
»Ja.«
»Wie viele Plätze hat der Pain Shelter? Fünfundzwanzig? Dreißig?«
»Gut geschätzt. Genau einunddreißig.«
»Also ein Tropfen auf den heißen Stein. Wieso vergrößern Sie den Shelter nicht? Oder gründen weitere?«
»Ich glaube, John würde nichts lieber tun als das.« Sues Blick streifte Marshall. »Aber das geht leider nicht. Uns fehlt das Geld. Wir versuchen zu sparen, wo wir nur können. Der Garten liefert uns Obst und Gemüse, wir halten das Haus selbst in Schuss. Wissen Sie, eines der Kinder, Sid, ist ein Weltraumfreak. Er sagt immer, dass wir wie Astronauten wären, die mit einem Raumschiff weit draußen im All unterwegs sind. Ganz in unserer eigenen Welt.«
»Ein interessantes Bild, aber nicht zutreffend«, warf der Bucklige ein. »Ein Raumschiff kann nur dank einer Bodenstation existieren und operieren.« Der Mann mit dem geflickten Anzug sprach mit Sue, als wäre sie eine Erwachsene. Und: Er sah sie dabei an. Das war ungewöhnlich. Meistens wanderten die Blicke der Touristen unweigerlich zu Marshall, während Sue antwortete.
»So ist es.« Sue nickte ernst. Und fügte hinzu: »Außerdem, was für einen Sinn hätte schon ein Raumschiff, das kein Zuhause hat, zu dem es wieder zurückkehren kann?«
Verblüffte Stille.
Woher bekam das Mädchen diese Einsichten? Sue überraschte John immer wieder – und sich selbst.
Das Mädchen schüttelte sich, als wäre es über das erschrocken, was es gesagt hatte, wollte sich losmachen von dem Ernst. Sue hob den gesunden Arm und sah auf ihre Uhr. »Ich sehe, unsere Zeit ist gleich um«, verkündete sie, wieder im unverbindlichen Reiseleiter-Ton. »Der Bus kehrt in zehn Minuten zum Tourist Office zurück.«
Sue machte einen artigen Knicks. »Wir bedanken uns für Ihre Aufmerksamkeit und hoffen, dass Ihnen unsere kleine Führung gefallen hat. Die verbleibenden Minuten stehen zu Ihrer freien Verfügung, aber ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass unser Werkstattladen geöffnet ist. Nutzen Sie die einmalige Chance, Ihre Familie oder Freunde zu Hause mit einem nicht alltäglichen Souvenir zu überraschen – wie wäre es mit einem generalüberholten Walmart-Einkaufswagen?«
Sue hatte die Lacher auf ihrer Seite. Die Touristen folgten ihr in die Werkstatt, wo Sue ihren ganzen Charme aufbringen würde, um einige zusätzliche Dollar für die Stiftung zu verdienen.
Der bucklige Mann mit dem geflickten Anzug blieb in der Küche.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Marshall.
»Vielleicht. Wenn Sie mir erlauben, dass ich Ihnen zuerst helfe.« Der Mann holte ein altmodisches Portemonnaie und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Es war mit einer Kette gesichert.
Der Bucklige nahm einen Scheck aus dem Portemonnaie, versicherte sich, dass die Arbeitsplatte sauber und trocken war, und schrieb etwas auf das Papier. Dann reichte er Marshall den Scheck.
Er war auf die Stiftung ausgestellt.
Eine Spende.
Über 22.192 Dollar und 73 Cent.
Sie gingen spazieren.
Sugar Land war kein Ort, an dem man Spaziergänge unternahm. Doch John Marshall ließ sich die Gewohnheit nicht nehmen. Er lebte für den Shelter, doch in regelmäßigen Abständen musste er dieses Leben hinter sich lassen. Bei Spaziergängen, Joggingrunden oder auf dem Rad, je nachdem, wie der Tag im Shelter lief.
Marshall blieb bei seinen Runden bislang unbehelligt. Weil man ihn und das, wofür er stand, achtete, wie er an guten Tagen glaubte. Weil er nichts besaß, was einen Überfall gelohnt hätte, glaubte er an schlechten Tagen, wenn ihn die Kinder beinahe in den Wahnsinn trieben.
Der Bucklige im Anzug humpelte neben ihm. Der Mann schien unbesorgt, als nehme er nicht wahr, in was für einer Gegend sie sich befanden, als wäre ihm entgangen, dass er in einem gepanzerten Bus zum Shelter gefahren worden war.
Oder war er einfach nur ähnlich unerschrocken wie Marshall, von einer Aufgabe erfüllt, der er alles andere unterordnete?
Der Bucklige zog ein kariertes Stofftaschentuch hervor und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Ist es immer so heiß hier?«
»Im Sommer ja. Und jeder Sommer wird heißer. Aber man gewöhnt sich daran. Früher war es hier schwül, jetzt ist die Hitze trocken. Die Wissenschaftler sagen voraus, dass die Gegend hier sich binnen einer Generation in eine Wüste verwandelt haben wird.«
»Zu trocken für meinen Geschmack.«
Der britische Akzent des Buckligen mutete Marshall unwirklich an, wie aus einem alten Film. Ein exzentrischer Lord mit geflicktem Designeranzug. Oder ein alter Diener, ein Faktotum, das man aus sentimentalen Gründen behielt. Nur: Was trieb den Buckligen nach Sugar Land? Marshall war stolz auf sein Gespür für Menschen. Er fühlte meist, was in seinem Gegenüber vorging. Bei diesem merkwürdigen Buckligen ließ es ihn im Stich.
»Sie leisten bewundernswerte Arbeit, Mister Marshall.«
»Danke!« Er sagte es