Готфрид Келлер

Gesammelte Werke von Gottfried Keller


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als er sich dem Vaterlande nähern sollte, alles schwer aufs Herz fiel, was sich in demselben begeben, ohne daß er den allerkleinsten Teil daran hatte. Noch schwerer fiel ihm die Mutter aufs Gewissen, die er nun endlich wiedersehen sollte, und in die Freude und Hoffnung über das Wiedersehen mischte sich eine seltsame Beklemmung und Furcht, wenn er sich die Veränderung dachte, welche mit ihrem äußern Aussehen vorgegangen sein mußte, und er fühlte die Flucht und das Gewicht dieser sieben Jahre tief mit für die alternde Mutter. Seit seine erste Heimreise so romantisch unterbrochen worden und er in dem Hause des Gastfreundes gelebt, hatte er erst das Schreiben an sie immer aufgeschoben, weil er dachte, so bald als möglich selbst hinzukommen und mit seiner wohlhergestellten Person Ende gut, alles gut zu spielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit verfiel, vergaß er sie zeitweise ganz, und wenn er an sie dachte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, auch nur eine Zeile zu schreiben, sowenig als etwas anderes zu beginnen, und am wenigsten hätte er gewußt, in welchem Tone er an die Mutter schreiben sollte, ohne sie zu täuschen, da er selbst nicht wußte, ob er den Tod oder das Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge gehen, wie sie gingen, vertraute auf die gute Natur der Mutter und setzte ihre Ruhe mit seiner Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn, der noch vor kurzem einen so großen Respekt und eine gewisse Furcht vor dem jungen schönen Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn dieses Gefühl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem Maße vor der alten schwachen, lange nicht gesehenen Mutter, und es war ihm zu Mute, wie wenn er einer strengen Richterin entgegenginge, die ihn um ihn und sein Leben zur Verantwortung zöge.

      Zugleich bemerkte er, sobald er einen Tag lang wieder ganz allein gewesen, daß unversehens der heillose Druck von Dortchens Bild, der, solange er mit dem Grafen noch fröhlich beisammen war, sich nicht hatte verspüren lassen, wieder in seiner Brust saß, und er mußte nun fürchten, daß dies nie wieder wegginge, ohne daß er etwas dazu tun konnte.

      Und zwar war es nun diesmal so, da er sonst ganz gefaßt und ruhig war, daß es ihm das Herz zusammenschnürte, ohne daß er besonders an sie dachte, und wenn er ganz beschäftigt mit anderen Dingen war, so wartete der verborgene Herzdrücker und harrte freundschaftlich aus, bis Heinrich sich an die Ursache erinnerte und über sie seufzte.

      Um dieser Dinge willen war er froh, einen mäßigen Umweg zu machen, um sich nur erst ein wenig zurechtzufinden, da ihm nun das Wiedersehen der Mutter wichtiger war, als wenn er vor eine Königin hätte treten müssen, und er doch mit Ruhe und Unbefangenheit ankommen wollte.

      So gelangte er an einem schönen Junimorgen in die alte schöne Stadt Basel und sah den Rhein wieder fließen, vorüber an dem alten Münster. Schon alle Straßen, die nach der Stadt führten, waren mit Tausenden von Fuhrwerken und Wagen bedeckt, welche eine unzählige Menschenmenge aus allen Gauen sowie aus dem Französischen und Deutschen nach Basel trugen; die Stadt selbst aber war ganz mit Grün bedeckt und mit rot und weißen Tüchern, Flaggen und Fahnen, die von allen Türmen wehten. Denn es wurde heute die vierhundertjährige Jubelfeier der Schlacht bei St. Jakob an der Birs begangen, wo tausend Eidgenossen zehntausend Feinde totschlugen und deren vierzigtausend von den Landesgrenzen abhielten durch den eigenen Opfertod, während im Schoße des Vaterlandes der Bürgerkrieg wütete. Am gleichen Tage ward auch das große eidgenössische Schützenfest eröffnet, welches alle zwei Jahre wiederkehrt und dazumal in Basel den höchsten bisherigen Glanz und Gehalt erreichte, da es gegenüber der alten kraftlosen Tagsatzung das politische Rendezvous des Volkslebens war in einer gärenden Umwandlungszeit.

      So stieß Heinrich gleich beim Eintritt ins Land mitten auf seine rauschende und grollende Bewegung, und ohne auszuruhen, ging er mit den hunderttausend Zuschauern auf das Schlachtfeld hinaus und wieder zurück in die reiche Stadt, welche mit ihren zahlreichen silbernen und goldenen Ehrengefäßen den Wirt machte. Doch mit dem Mittage räumte die geschichtliche Feier der Vergangenheit der treibenden Gegenwart den Platz ein, und unter der großen Speisehütte des Schießplatzes aßen schon an diesem ersten Mittag fünftausend waffenkundige Männer zusammen, indessen am andern Ende des Platzes auf eine unabsehbare Scheibenreihe ein Rottenfeuer eröffnet wurde, welches acht Tage lang anhielt, ohne einen Augenblick aufzuhören. Dies war kein blindes Knattern wie von einem Regiment Soldaten, sondern zu jedem Schusse gehörte ein wohlzielender Mann mit hellen Augen, der in einem guten Rocke steckte, seiner Glieder mächtig war und wußte, was er wollte.

      Inmitten der hölzernen Feststadt, deren Ordnung, Gebrauch und Art trotz aller Luftigkeit herkömmlich und festgestellt war und ihre eigene Architektur erzeugt hatte, ragten drei monumentale Zeichen aus dem Wogen der Völkerschaft, die das große Viereck ausfüllte. Ganz in der Mitte die ungeheure grüne Tanne, aus deren Stamm ein vielröhriger Brunnen sein lebendiges Wasser in eine weite Schale goß. In einiger Entfernung davon stand die Fahnenburg, auf welche die Fahnen der stündlich ankommenden Schützengesellschaften gesteckt und unter deren Bogen dieselben begrüßt und verabschiedet und die letzten Handschläge, Vorsätze und Hoffnungen getauscht wurden. Auf der anderen Seite der Tanne war der Gabensaal, welcher die Preise und Geschenke enthielt aus dem ganzen Lande sowie von allen Orten diesseits und jenseits des Ozeans, vom Gestade des Mittelmeeres, von überall, wo nur eine kleine Zahl wanderlustiger, erwerbsfroher Schweizer sich aufhielt oder die Jugend auf fernen Schulen weilte. Der Gesamtwert erreichte diesmal eine größere Höhe als früher je, und das Silbergerät, die Waffen und andere gute Dinge waren massenhaft aufgetürmt.

      Während nun in den Stuben der Doktrinäre, in den Sälen der Staatsleute vom alten Metier und in der Halle des Bundes von Anno funfzehn das politische Fortgedeihen stockte und nichts anzufangen war, trieb und schoß dasselbe in mächtigen Keimen auf diesem brausenden, tosenden Plan, über dem die vielen Fahnen rauschten. Das Land war mitten in dem Kampfe und in der Mauser begriffen, welche mit dem Umwandlungsprozesse eines jahrhundertealten Staatenbundes in einen Bundesstaat abschloß und ein durchaus denkwürdiger, in sich selbst bedingter organischer Prozeß war, der in seiner Mannigfaltigkeit, Vielseitigkeit, in seinen wohlproportionierten Verhältnissen und in seinem erschöpfenden Wesen die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ und sich schlechtweg lehrreich und erbaulich darstellte, da an sich nichts klein und nichts groß ist und ein zellenreicher summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer anzusehen ist als ein mächtiger Sandhaufen.

      Das erste Jahrzehent, welches Anno dreißig die Fortbildung zur freien Selbstbestimmung oder zu einem jederzeit berechtigten Dasein, oder wie man solche Dinge benennen mag, wieder aufgenommen hatte, war unzureichend und flach verlaufen, weil die humanistischen Kräfte aus der Schule des vorigen Jahrhunderts, die den Anfang noch bewirkt, endlich verklungen waren, ehe ein ausreichendes Neues reif geworden, das für die ausdauernde Einzelarbeit zweckmäßig und rechtlich, in seinen Trägern frisch und anständig sich darstellte. In die Lücke, welche die Stockung hervorbrachte, trat sofort die vermeintliche Reaktion, welche ihrer Art gemäß sich für höchst selbständig und ursprünglich hielt, in der Tat aber nur dazu diente, dem Fortschritt einen Schwung zu geben, und es ihm möglich machte, nach mehrjährigen Kämpfen endlich die sichere und bewußte Mehrheit zu finden für die neue Bundesverfassung. Es begann jene Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen und Verfassungsrevisionen, die man Putsche nannte und alles Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrett der Schweiz, wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkes- und Staatssouveränetät war, die eine mit repräsentativer Einrichtung, die andere demokratisch, diese mit, jene ohne Veto, diese von städtischem Charakter, jene von ländlichem, und wieder eine andere wie eine Theokratie aussehend, und die Schweizer bezeigten bald eine große Übung in diesem Schachspielen und Putschen.

      Das Wort Putsch stammt aus der guten Stadt Zürich, wo man einen plötzlichen vorübergehenden Regenguß einen Putsch nennt und demgemäß die eifersüchtigen Nachbarstädte jede närrische Gemütsbewegung, Begeisterung, Zornigkeit, Laune oder Mode der Züricher einen Zürichputsch nennen. Da nun die Züricher die ersten waren, die geputscht, so blieb der Name für alle jene Bewegungen und bürgerte sich sogar in die weitere Sprache ein, wie Sonderbündelei, Freischärler und andere Ausdrücke, die alle aus dem politischen Laboratorium der Schweiz herrühren.

      Der Zürichputsch war aber eine religiöse Bewegung gewesen, da der müßige Fortschritt, eingedenk des Sprichwortes, daß Müßiggang aller Laster Anfang ist, etwas an der Religion machen wollte, wie die Bauern sich ausdrückten, und zwar auf dogmatischem Wege. Die Kirche läßt sich aber von unkirchlichen