Volk selber hält. Glücklich aber, wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann, der nichts widerspiegelt als dies Volk, indessen dieses selbst nur ein kleiner heller Spiegel der weiten lebendigen Welt ist!«
Fünfzehntes Kapitel
Jetzt war er auf dem Berge angekommen, der gegenüber der Stadt lag, und er sah plötzlich deren Linden hoch in den Himmel tauchen und die goldenen Kronen der Münstertürme in der Abendsonne glänzen. Weithin lag der See gebreitet mit seinen blauen Wassern, der grüne Fluß strömte ruhig aus demselben durch die Stadt hin, und Heinrich fand es in seiner Freude rührend und höchst zuverlässig, daß der Fluß während der sieben Jahre auch nicht einen Augenblick zu strömen aufgehört habe. Aber seine Augen hefteten sich sogleich wieder auf die goldene Abendstadt und entdeckten eine Menge neuer Häuser sowie eine viel erweiterte Ausdehnung am See und am Flusse hin. Nur das alte dunkle Gemäuer mit dem Kirchhof dicht zu seinen Füßen diesseits des Flusses war noch dasselbe, und das Totenglöcklein erklang traurig in demselben, während ein Sarg über die Brücke getragen wurde, welchem ein langer zahlreicher Trauerzug folgte, wie wenn ein Unbescholtener begraben wird, der lange an einem Orte gewohnt hat. Eine kleine Weile sah er dem langsam gehenden Zuge neugierig zu, bis derselbe an dem Berge emporzusteigen begann; dann stieg er aber den steilen Staffelberg hinab, von dem ihm geträumt, daß er eine Kristalltreppe wäre, und machte sich dem Kirchhof zu, der nun von den Leuten angefüllt war; denn er wollte, indem er im Vorbeigehen dem Begräbnis beiwohnte, gleich zum Gruße an die Vaterstadt eine gesellschaftliche Pflicht erfüllen und gedachte auch Dortchens, welche die Toten so sehr bedauerte, die vergehen und für immer aus der Welt scheiden müssen.
Er trat mit den Leuten, die ihn nicht kannten, in das kleine Kirchlein und hörte deutlich den Geistlichen, der das Gebet zu sprechen hatte, den Namen seiner Mutter verkünden mit ihrem Geburts- und Todestage und die Zahl ihrer Jahre mit ihrem Herkommen und ihrem Stande.
Ohne weiter zu hören, ging er hinaus und suchte das Grab, an welchem der Sarg stand auf der Bahre. Eben nahm der altbekannte Totengräber die obere schwarze Tuchdecke von demselben und legte sie bedächtig zusammen, dann die untere von weißer Leinwand, welche der Sitte gemäß eine Handbreit unter der schwarzen Decke hervorsehen muß, und endlich stand das bloße rosige Tannenholz da. Heinrich konnte nicht durch die Bretter hindurchsehen, er sah nur, wie jetzt der Sarg in die Erde gesenkt und mit derselben zugedeckt wurde, und er rührte sich nicht. Die Leute verliefen sich, unter denen Heinrich eine Menge sah und kannte, ohne sie doch zu sehen und zu kennen; der Kirchhof leerte sich, und ein Mann nahm ihn bei der Hand und führte ihn auch fort. Es war der brave Nachbar, welcher auf seiner Hochzeitsreise ihn erst aufgesucht und ihm Nachricht von der Mutter gebracht hatte. Heinrich ging mit ihm über die Brücke und in die Stadt hinauf. Er betrachtete wohl alle Dinge auf dem Wege und warf hierhin einen Blick und dorthin einen und antwortete auch dem Nachbar ordentlich auf seine Fragen, die derselbe an ihn richtete, in der Meinung, ihn munter zu erhalten. Als sie in die Gasse gelangten, wo das alte Haus stand, wollte Heinrich, ohne etwas anderes zu denken, hineintreten; aber fremde Leute sahen aus demselben, und der Nachbar führte ihn hinweg und in sein eigenes Haus, so daß also Heinrich nicht wieder in die Tür treten konnte, durch welche seine Jugend aus- und eingegangen.
Als er bei dem Nachbar endlich in der Stube und von den guten glücklichen Leuten teilnehmend begrüßt war, erleichterte es ihr Benehmen gegen ihn, zu sehen, daß er in seinem Äußern in guten Umständen und in guter Ordnung erschien; er fragte sie, indem er sich setzte, nun um seine Mutter, und sie erzählten ihm, was sie wußten.
Nachdem sie lange in Kummer und stummer Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von ihm gewartet, wurde sie gerade um die Zeit, als Heinrich sich im Herbste auf den Heimweg begeben hatte und dann im Hause des Grafen haftenblieb, aus ihrem Hause vertrieben, in welchem sie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn nachdem es ruchbar geworden, daß sie jenes Kapital für ihren Sohn aufgenommen, von welchem nichts weiter zu hören war, hielt man sie um dieser Handlung willen für leichtsinnig und unzuverlässig und kündigte ihr die Summe. Da sie trotz aller Mühen dieselbe nicht aufs neue aufbringen konnte, indem niemand sich in diesen Handel einlassen zu dürfen glaubte, mußte sie endlich den Verkauf des Hauses erdulden und mit ihrer eingewohnten Habe, von welcher jedes Stück seit soviel Jahren an selbem Platze unverrückt gestanden, in eine fremde ärmliche Wohnung ziehen, über welchem mühseligen und verwirrten Geschäft sie fast den Kopf verlor. Den Rest des Verkaufswertes legte sie aber nicht etwa wieder an, um aufs neue zu sparen und das Unmögliche möglich zu machen, sondern sie legte ihn gleichgültig hin und nahm davon das wenige, was sie brauchte, aber ohne zu rechnen. Übrigens bemühten sich jetzt die Leute um sie, halfen ihr, wo sie konnten, und verrichteten ihr alle Dienste, welche sie sonst anderen so bereitwillig geleistet. Sie ließ es geschehen und kümmerte sich nichts darum, sondern brütete unverwandt über dem Zweifel, ob sie unrecht getan, alles an die Ausbildung und gemächliche Selbstbestimmung ihres Sohnes zu setzen, und dies Brüten wurde einzig unterbrochen von der zehrenden Sehnsucht, das Kind nur ein einziges Mal noch zu sehen. Sie setzte zuletzt eine bestimmte Hoffnung auf den Frühling, und als dieser verging und der Sommer anbrach, ohne daß er kam, starb sie.
Auf Heinrichs Frage, ob sie ihn angeklagt, verneinten das die Nachbarsleute, sondern sie habe ihn immer verteidigt, wenn jemand auf sein Verhalten angespielt; jedoch habe sie dabei geweint, und auf eine Weise, daß ihre Tränen unwillkürlichen Vorwurfs genug schienen gegen den verschollenen Sohn. Dies verhehlten ihm die guten Leute nicht, weil sie ein wenig Bitterkeit ihm für zuträglich hielten und dachten, es könne ihm, da er nun in gutem Gedeihen begriffen sei, nicht schaden, etwas gekränkt zu werden, damit der Ernst um so länger vorhalte und er nun ein gründlich guter Bürgersmann werde.
So war nun der schöne Spiegel, welcher sein Volk widerspiegeln wollte, zerschlagen und der einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachsen wollte, gebrochen. Denn da er die unmittelbare Lebensquelle, welche ihn mit seinem Volke verband, vernichtet, so hatte er kein Recht und keine Ehre, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür.
Ungeachtet des Widerspruches seiner Gastfreunde suchte er die Wohnung noch auf, in welcher die Mutter gestorben, ließ sich dieselbe übergeben und brachte die Nacht darin zu, im Dunkeln sitzend. Wenn ihr bloßer, durch ihn verschuldeter Tod sein äußeres Leben und Wirken, auf das er nun alle Hoffnung gesetzt hatte, fortan unmöglich machte, so brach in dieser Nacht die Tatsache sein innerstes Leben, daß sie endlich mußte geglaubt haben, ihn als keinen guten Sohn zu durchschauen, und es fielen ihm ungerufen jene furchtbaren Worte ein, welche Manfred von einem durch ihn vernichteten blutsverwandten weiblichen Wesen spricht:
»Nicht meine Hand, mein Herz, das brach das ihre,
Es welkte, mich durchschauend.«
Es war ihm, als ob alle Mütter der Erde ihn durchschauten, alle glücklichen ihn verachteten und alle unglücklichen ihn haßten als auch zur Rotte Korah gehörig. Da nun aber in Wirklichkeit nichts an ihm zu durchschauen war als das lauterste und reinste Wasser eines ehrlichen Wollens, wie er jetzt war, so erschien ihm dies Leben wie eine abscheuliche, tückische Hintergehung, wie eine niederträchtige und tödliche Narretei und Vexation, und er brauchte alle Mühen seiner ringenden Vernunft, um diese Vorstellung zu unterdrücken und der guten Meinung der Welt ihr Recht zu geben.
Als das enge Gemach sich mit dem Morgengrauen ein wenig erhellte, sah er den alten bekannten Hausrat, der einst die bequemeren Räume erfüllt, unordentlich und ängstlich zusammengehäuft; er wagte nicht, einen Schrank zu öffnen, und tat endlich nur einen altmodischen Koffer auf, der da zunächst stand. Er enthielt die alten Trachten von den Vorfahrinnen seiner Mutter, wie sie die Frauen gern aufzubewahren pflegen. Großblumige oder gestreifte seidene Röcke und Jäckchen, rote Schuhe mit hohen Absätzen, silbergewirkte Bänder, Häubchen, mächtige weiße Halstücher mit reichen Stickereien, Fächer, bemalt mit Schäferspielen, Fischern und Vogelstellern, und eine Menge zerquetschter künstlicher Blumen, alles das lag vergilbt und zerknittert durcheinander und war doch mit einer gewissen unverwüstlichen Frische anzufühlen, da die weibliche Schonung und Sparsamkeit in der Aufregung diese Festkleider