Karl Kautsky

Der Ursprung des Christentums


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als Geschichtsquellen nicht unbrauchbar, zumal ihr Zweck kein von außen entlehnter ist, sondern mit den Absichten Jesu zum Teil zusammenfällt.“ (S. 14)

      Aber über diese Absichten wissen wir ja nur das, was die Evangelien uns mitteilen! Die ganze Beweisführung Harnacks für die Glaubwürdigkeit der Evangelien als Quellen über die Persönlichkeit Jesu beweist nur, wie unmöglich es ist, etwas Sicheres und Durchschlagendes dafür vorzubringen.

      Im weiteren Verlauf seiner Abhandlung sieht Harnack selbst sich genötigt, alles, was die Evangelien über die ersten dreißig Jahre Jesu berichten, als unhistorisch preiszugeben, ebenso von dem späteren alles, was an 1mmöglich oder erfunden nachzuweisen ist. Aber den Rest möchte er doch als geschichtliche Tatsache retten. Er meint, es bleibe uns immer noch „ein anschauliches Bild von Jesu Predigt, dem Ausgang seines Lebens und dein Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht hat“. (S. 20)

      Woher weiß aber Harnack, daß gerade Jesu Predigt so getreu in den Evangelien wiedergegeben würden. Über die Wiedergabe anderer Predigten jener Zeit urteilen die Theologen skeptischer. So sagt Harnacks Kollege Pfleiderer in seinem Buch über das Urchristentum:

      „Über die Geschichtlichkeit dieser und anderer Reden der Apostelgeschichte zu streiten, hat in der Tat keinen Sinn; man bedenke doch nur, was alles vorausgesetzt werden müßte, um die wörtlich genaue oder auch nur ungefähr treue Überlieferung einer solchen Rede zu ermöglichen: sie müßte von einem Ohrenzeugen sofort niedergeschrieben (eigentlich geradezu stenographiert) worden sein, und diese Aufzeichnungen der verschiedenen Reden müßten in den Kreisen der Hörer, die doch meistens Juden oder Heiden waren und zum Gehörten sich größtenteils gleichgültig oder feindlich verhielten, über ein halb Jahrhundert lang aufbewahrt worden, endlich vom Geschichtschreiber aus den verschiedensten Orten her zusammengetragen worden sein! Wer sich alle diese Unmöglichkeiten einmal klargemacht hat, der wird ein für allemal wissen, was er von allen diesen Reden zu halten hat: daß sie in der Apostelgeschichte genau ebenso wie bei allen weltlichen Geschichtschreibern des Altertums freie Kompositionen sind, in welchen der Verfasser seine Helden so sprechen läßt, wie er denkt, daß sie in den jeweiligen Situationen gesprochen haben könnten.“ (S. 500, 501)

      Sehr richtig! Aber warum soll alles das auf einmal für die Reden Jesu nicht gelten, die ja für die Verfasser der Evangelien noch weiter zurücklagen als die Reden der Apostelgeschichte? Warum sollen die Reden Jesu in den Evangelien etwas anderes sein als Reden, von denen die Verfasser der Berichte wünschten, daß Jesu sie gehalten hätte? In der Tat finden wir in den überlieferten Reden mannigfache Widersprüche, zum Beispiel rebellische und unterwürfige Reden, die sich nur dadurch erklären lassen, daß unter den Christen verschiedene Richtungen bestanden, von denen jede sich Reden Christi, die sie überlieferte, nach ihren Bedürfnissen zurechtkomponierte. Wie ungeniert auch die Evangelisten in solchen Dingen verfuhren, dafür nur ein Beispiel. Man vergleiche die Bergpredigt bei Lukas und bei dem späteren Matthäus. Bei jenem ist sie noch eine Verherrlichung der Besitzlosen, eine Verdammung der Reichen. Das war vielen Christen zu des Matthäus Zeit schon unbequem geworden. Frischweg macht daher das Matthäusevangelium aus den Besitzlosen, die selig werden, Arme im Geiste, und die Verdammung der Reichen ließ es ganz weg.

      So wurde mit Reden manipuliert, die schon niedergeschrieben waren, und da will man uns weismachen, die Reden, die Jesus angeblich ein halbes Jahrhundert vor ihrer Niederschrift gehalten habe, seien in den Evangelien getreulich wiedergegeben! Den Wortlaut einer Rede, die nicht sofort niedergeschrieben wurde, durch bloße mündliche Überlieferung fünfzig Jahre lang getreu zu bewahren, ist von vornherein unmöglich. Wer trotzdem durch bloßes Hörensagen überlieferte Reden nach einem solchen Zeitraum noch im Wortlaut niederschreibt, bezeugt schon durch diese Tatsache allein, daß er sich berechtigt fühlt, niederzuschreiben, was ihm paßt, oder daß er leichtgläubig genug ist, alles für bare Münze zu halten, was ihm erzählt wird. Andererseits kann man bei manchen Äußerungen Jesu nachweisen, daß sie nicht von ihm herrühren, sondern schon vor ihm im Schwange waren.

      Als spezifisches Produkt Jesu wird zum Beispiel das „Vaterunser“ betrachtet. Aber Pfleiderer weist darauf hin, daß ein aramäisches, in hohes Alter hinaufreichendes Gebet Kaddisch mit den Worten schloß:

      „Erhöht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat. Er errichte sein Reich bei euren Lebzeiten und bei Lebzeiten des ganzen Hauses Israel.“

      Man sieht, der Anfang des christlichen Vaterunser ist eine Nachahmung.

      Wenn es aber mit den Reden Jesu nichts ist, mit seiner Jugendgeschichte nichts, mit seinen Wundern erst recht nichts, was bleibt dann von den Evangelien noch übrig?

      Nach Harnack bliebe noch der Eindruck, den Jesus auf seine Jünger machte, und seine Leidensgeschichte. Aber die Evangelien sind nicht von Jüngern Christi verfaßt, sie spiegeln nicht den Eindruck, den die Persönlichkeit, sondern jenen, den die Erzählung von der Persönlichkeit Christi auf die Glieder der Christengemeinde hervorrief. Über die historische Wahrheit dieser Erzählung besagt selbst der stärkste Eindruck nichts. Auch die Erzählung von einer fingierten Person kann den tiefsten Eindruck in der Gesellschaft hervorrufen, wenn die historischen Bedingungen dafür gegeben sind. Welchen Eindruck machte nicht Goethes Werther, und doch wußte alle Welt, daß man es da nur mit einem Roman zu tun habe. Trotzdem erweckte er zahlreiche Jünger und Nachfolger.

      Im Judentum haben gerade in den Jahrhunderten unmittelbar vor und nach Jesus erfundene Persönlichkeiten die größte Wirkung geübt, wenn die ihnen zugeschriebenen Taten und Lehren starken Bedürfnissen im jüdischen Volke entsprachen. Das bezeugt zum Beispiel die Figur des Propheten Daniel, von dem das Buch Daniels berichtet, er habe unter Nebukadnezar, Darius und Cyrus, also im sechsten Jahrhundert vor Christi, gelebt, die größten Wunder gewirkt und Prophezeiungen von sich gegeben, die sich später in überraschender Weise erfüllten und die mit der Weissagung endeten, es würden große Bedrängnisse über das Judentum kommen, aus denen es durch einen Heiland gerettet und zu neuem Glanze erhoben werde. Dieser Daniel hat nie gelebt, das von ihm handelnde Buch wurde erst um das Jahr 165, zur Zeit der makkabäischen Empörung, geschrieben, kein Wunder, daß alle Prophezeiungen, die der Prophet angeblich im sechsten Jahrhundert äußerte, bis zu diesem Jahre auffallend stimmten, was dem frommen Leser die Überzeugung beibrachte, auch die Schlußprophezeiung eines so untrüglichen Propheten müsse unfehlbar in Erfüllung gehen. Das Ganze ist eine kecke Erfindung und doch übte es die größte Wirkung; der Messiasglaube, der Glaube an einen kommenden Erlöser, zog aus ihm seine stärkste Nahrung, es wurde vorbildlich für alle kommenden Prophezeiungen eines Messias. Das Buch Daniels zeigt aber auch, wie unbedenklich man damals in frommen Kreisen schwindelte, wenn es galt, eine Wirkung zu erzielen. Die Wirkung, die die Figur Jesu erzielte, beweist also für ihre historische Echtheit gar nichts.

      So bleibt von dem, was Harnack selbst aus den Evangelien als historischen Kern noch zu retten glaubt, nichts übrig, als die Leidensgeschichte Christi. Indes ist die ebenfalls vom Anfang bis zum Ende, bis zur Auferstehung und Himmelfahrt, so mit Wundern versetzt, daß es auch da fast unmöglich ist, einen historischen Kern mit Bestimmtheit herauszuschälen. Wir werden die Glaubwürdigkeit dieser Leidensgeschichte übrigens noch näher kennen lernen. Nicht besser steht es mit der anderen urchristlichen Literatur. Alles, was anscheinend von Zeitgenossen Jesu, etwa von Aposteln herrührt, ist als Fälschung wenigstens in dem Sinne erkannt, daß es ein Produkt späterer Zeit ist.

      Auch von den Briefen, die dem Apostel Paulus zugeschrieben werden, gibt es keinen, dessen Echtheit völlig unbestritten wäre; eine Anzahl sind von der historischen Kritik als unecht allgemein anerkannt. Die frechste unter diesen Fälschungen ist wohl die des zweiten Briefes an die Thessalonicher. In diesem nachgemachten Brief warnt der Verfasser, der sich hinter dem Namen Pauli birgt: „Laßt euch nicht so leicht den Kopf verrücken oder verwirren, weder durch einen Geist, noch durch ein Wort, noch durch einen (gefälschten) Brief unter unserem Namen.“ (2, 2) Und zum Schlusse fügt der Fälscher hinzu: „Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß, das Zeichen in jedem Brief. So schreibe ich.“ Gerade diese Worte wurden zum Verräter des Fälschers.

      Eine Reihe anderer Briefe Pauli bilden vielleicht die ältesten Literaturerzeugnisse des Christentums. Von Jesus erzählen sie