aber die Sache, wenn man eine Weltreligion nicht als das Produkt eines einzelnen Übermenschen betrachtet, sondern als ein Produkt der Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Zustände zur Zeit der Entstehung des Christentums sind ganz gut bekannt. Aber auch der gesellschaftliche Charakter des Urchristentums läßt sich aus dessen Literatur mit einiger Sicherheit erforschen.
Wohl ist der historische Wert der Evangelien und der Apostelgeschichte nicht höher zu veranschlagen als etwa der der homerischen Gedichte oder des Nibelungenliedes. Sie mögen historische Persönlichkeiten behandeln, aber deren Wirken wird mit solcher dichterischen Freiheit erzählt, daß es in möglich ist, auch mir das mindeste daraus für die geschichtliche Darstellung solcher Persönlichkeiten zu entnehmen, ganz abgesehen davon, daß sie mit Fabelwesen so gemischt sind, daß man, allein auf diese Gedichte gestützt, nie sagen kann, welche ihrer Persönlichkeiten historische, welche erfundene sind. Wenn wir über Attila nicht mehr wüßten, als was im Nibelungenlied über ihn steht, müßten wir ebenso wie von Jesus sagen, wir wissen nicht einmal mit Bestimmtheit, ob er gelebt hat, ob er nicht ebenso eine mythische Persönlichkeit ist wie Siegfried.
Aber solche dichterische Darstellungen sind von unschätzbarem Werte zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entstanden. Diese geben sie getreu wieder, mögen ihre Verfasser einzelne Tatsachen und Persönlichkeiten noch so frei erfinden. Wie weit die Erzählung vom Trojanischen Krieg und dessen Helden auf einer historischen Grundlage beruht, das ist, vielleicht für immer, in Dunkel gehüllt. Aber welches die gesellschaftlichen Verhältnisse des heroischen Zeitalters waren, darüber haben wir in der Ilias und Odyssee zwei historische Quellen ersten Ranges.
Für die Erkenntnis ihrer Zeit sind dichterische Schöpfungen oft weit wichtiger als die getreuesten geschichtlichen Darstellungen. Denn diese teilen bloß das Persönliche, Auffallende, Ungewöhnliche mit, das historisch am wenigsten nachhaltige Wirkung hat. Jene dagegen gewähren uns einen Einblick in das alltägliche Leben und Treiben der Massen, das ununterbrochen und dauernd wirkt und die Gesellschaft am dauerndsten beeinflußt, was aber der Historiker nicht verzeichnet, weil es ihm allbekannt und selbstverständlich erscheint. Darum haben wir zum Beispiel in den Romanen Balzacs eine der wichtigsten Geschichtsquellen über das gesellschaftliche Leben Frankreichs in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts.
So können wir auch aus den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Apostelbriefen freilich nichts Bestimmtes über Jesu Leben und Lehre erfahren, wohl aber sehr Wichtiges über den gesellschaftlichen Charakter, die Ideale und Bestrebungen der urchristlichen Gemeinden. Indem die Bibelkritik die verschiedenen Schichten bloßlegt, die in den genannten Schriften übereinander gelagert sind, bietet sie uns die Möglichkeit, den Entwicklungsgang dieser Gemeinden wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu verfolgen, indessen uns die „heidnischen“ und jüdischen Quellen einen Einblick in die gesellschaftlichen Triebkräfte ermöglichen, die gleichzeitig auf das Urchristentum wirkten. Damit ist die Möglichkeit gegeben, es als Produkt seiner Zeit zu erkennen und zu begreifen, und das ist die Grundlage jeder historischen Erkenntnis. Wohl können auch einzelne Persönlichkeiten die Gesellschaft beeinflussen, und für das Gesamtbild ihrer Zeit ist die Zeichnung hervorragender Individuen nicht zu entbehren. Aber an historischen Zeiträumen gemessen ist deren Einfluß nur ein vorübergehender, bildet er nur den äußerlichen Zierat, der am ehesten an einem Bau in die Augen fällt, uns aber über seine Grundmauern nichts sagt. Diese sind es, die den Charakter des Baues und seine Dauerhaftigkeit bestimmen. Gelingt es, sie bloßzulegen, dann ist für das Begreifen des Bauwerkes die wichtigste Arbeit getan.
II. Die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit
1. Die Sklavenwirtschaft
a. Der Grundbesitz
Wollen wir die Anschauungen begreifen, die eine Zeit besonders kennzeichnen und von denen anderer Zeiten Ämterscheiden, dann müssen wir vor allem die ihr eigentümlichen Bedürfnisse und Probleme erforschen, die in letzter Linie in ihrer besonderen Produktionsweise wurzeln, in der Art und Weise, wie die Gesellschaft jener Zeit ihren Lebensunterhalt gewann.
Zunächst wollen wir die Wirtschaftsweise, auf der die Gesellschaft des Römerreichs beruhte, in ihrer Entwicklung von ihren Anfängen an verfolgen. Nur so gelangen wir zum Verständnis ihrer Eigenart zur Zeit des Abschlusses dieser Entwicklung während der Kaiserzeit und der besonderen Tendenzen, die sie damals erzeugte.
Die Grundlage der Produktionsweise jener Länder, an denen sich da Römerreich aufbaute, bildete die bäuerliche Landwirtschaft und daneben noch, aber in weit geringerem Grade, Handwerk und Warenhandel. Es überwog noch die Produktion für den Selbstbedarf. Die Warenproduktion, die Produktion für den Verkauf, war noch wenig entwickelt. Auch Handwerker und Kaufleute besaßen vielfach landwirtschaftliche Betriebe, und diese waren mit dem Haushalt eng verknüpft, ihre Hauptarbeit galt der Produktion für den Haushalt. Die Landwirtschaft lieferte die Lebensmittel für die Küche und daneben noch Rohstoffe, Flachs, Wolle, Leder, Holz, aus denen die Familienangehörigen selbst Kleider, Hausrat, Werkzeuge herstellten. Bloß ein etwaiger Überschuß über die Bedürfnisse des Haushaltes hinaus wurde verkauft.
Diese Produktionsweise erheischt da Privateigentum an den meisten Produktionsmitteln, an allen, in denen menschliche Arbeit steckt, also auch das am Ackerland, aber noch nicht das an Wald und Weide, die Gemeinbesitz bleiben können. Das an den Haustieren, aber nicht am Wild. Endlich das an den Werkzeugen und Rohstoffen sowie den daraus gewonnenen Produkten.
Mit dem Privateigentum ist aber auch schon die Möglichkeit ökonomischer Ungleichheiten gegeben. Glückliche Zufälle können den einen Betrieb begünstigen, bereichern, den anderen schädigen, verarmen lassen. Die Betriebe der ersteren Art wachsen, ihr Land, ihr Vieh nimmt zu. Damit ersteht jedoch auch für die größeren Betriebe schon eine besondere Art Arbeiterfrage, die Frage, woher die zusätzlichen Arbeitskräfte nehmen, die erforderlich sind, soll die größere Menge Vieh richtig gewartet, der ausgedehntere Acker gehörig bearbeitet werden.
Klassenunterschiede und Klassengegensätze kommen jetzt auf. Je produktiver die landwirtschaftliche Arbeit wird, desto größere Überschüsse über den Bedarf des Landwirtes hinaus liefert sie. Diese Überschüsse dienen auf der einen Seite dazu, Handwerker zu ernähren, die sich auf die Herstellung mancher Gebrauchsgegenstände besonders werfen, wie Schmiede und Töpfer; andererseits kann man die Überschüsse dazu verwenden, Gebrauchsgegenstände oder Rohmaterialien einzutauschen, die nicht im Lande hergestellt werden können, weil die Natur sie nicht liefert oder das Geschick dazu fehlt. Solche Produkte werden aus anderen Gegenden durch Kaufleute gebracht. Das Aufkommen des Handwerkes und des Handels trägt dazu bei, die Ungleichheiten im Grundbesitz zu vermehren. Zu der Ungleichheit zwischen größerem und kleinerem Besitz gesellt sich nun auch die der größeren Nähe oder Entfernung von den Punkten, an denen Handwerker und Kaufleute sich zusammenfinden, um dort ihre Waren gegen die Überschüsse der Bauern auszutauschen. Je schlechter die Verkehrsmittel, desto schwieriger ist es, die Produkte zu Markte zu bringen, desto mehr ist der nahe am Markte Wohnende dort begünstigt.
So bildet sich aus den durch alle oder mehrere dieser Momente Begünstigten eine Klasse von Grundbesitzern, die größere Überschüsse erzielt als die Masse der Bauern, mehr Produkte des Handels und Handwerkes dafür eintauscht, mehr Muße hat als die Durchschnittslandwirte, über mehr Hilfsmittel der Technik bei der Arbeit wie im Kriege verfügt, mehr geistige Anregungen empfängt durch da Zusammenwohnen oder doch den oftmaligen Verkehr mit Künstlern und Kaufleuten und so ihren geistigen Horizont erweitert. Diese Klasse begünstigter Grundbesitzer gewinnt jetzt Zeit, Fähigkeit und Mittel, Geschäfte zu besorgen, die über die Grenzen der bäuerlichen Beschränktheit hinausgehen. Sie gewinnt Zeit und Kraft zur Zusammenfassung mehrerer Bauerngemeinden in einem Staatswesen, zu dessen Verwaltung und Verteidigung sowie zur Regelung