Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski


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saß da und hörte schweigend und voll Widerwillen zu. Die guten Bissen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte, rührte er nur aus Höflichkeit an, nur um sie nicht zu kränken. Er blickte unverwandt Sonja an. Sonja aber wurde immer unruhiger und ängstlicher; sie ahnte, daß dieses Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter immer schlimmer wurde. Sonja wußte unter anderm, daß sie, Sonja, selbst die Hauptursache war, weswegen die beiden kürzlich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in so verächtlicher Weise abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter sich durch die Einladung geradezu beleidigt gefühlt und gefragt habe, wie man ihr denn zumuten könne, ihre Tochter neben »dieses Mädchen« zu setzen. Sonja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine beleidigende Äußerung über sie, Sonja, auf Katerina Iwanowna heftiger wirkte als eine über sie selbst oder über ihre Kinder oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte: ihr als tödliche Beleidigung galt. So sah denn Sonja voraus, daß Katerina Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, »ehe sie nicht diesen hoffärtigen Frauenzimmern würde bewiesen haben, daß sie alle beide usw. usw.« Unglücklicherweise schickte in diesem Augenblicke jemand vom andern Ende des Tisches her an Sonja einen Teller, auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet sofort in Wut und bemerkte laut über den Tisch hinüber, der Übersender müsse wohl ein betrunkener Esel sein. Amalia Iwanowna, die gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge sei, und sich gleichzeitig durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefster Seele gekränkt fühlte, beabsichtigte dem Gespräche eine andre Richtung zu geben und so die unangenehme Stimmung der Gesellschaft zu bessern. Deshalb, und auch um bei dieser Gelegenheit ihre eigene Person in der allgemeinen Achtung steigen zu lassen, begann sie auf einmal ohne äußere Veranlassung zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, »Karl aus der Apotheke«, eines Nachts in einer Droschke gefahren sei; der Kutscher habe ihn ermorden wollen, und Karl habe ihn »serr, serr« gebeten, ihn doch nicht zu ermorden, und habe geweint und die Hände gefaltet, und »erschreckt« und vor Furcht »sei ihm das Herz gebeben«. Katerina Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch lächelnd, Amalia Iwanowna täte besser, keine Geschichten auf Russisch zu erzählen. Diese fühlte sich noch mehr gekränkt und erwiderte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer »beim Gehen seine Hände in Taschen gesteckt«. Die spottlustige Katerina Iwanowna konnte sich nicht mehr halten und brach in ein lautes Gelächter aus, so daß Amalia Iwanowna den letzten Rest von Geduld verlor und sich kaum noch beherrschen konnte.

      »Nein, diese Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna wieder Raskolnikow zu; sie war ordentlich lustig geworden. »Sie wollte sagen, er habe immer die Hände in den Taschen gehabt; es klang aber so, als habe er fremde Taschen ausgeräumt, kche-kche! Haben Sie wohl auch schon bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Ausländer in Petersburg, und ganz besonders die Deutschen, die hier bei uns zusammenströmen, ohne Ausnahme dümmer sind als wir? Nun, sagen Sie selbst, kann ein vernünftiger Mensch so erzählen, daß ›diesem Karl aus der Apotheke das Herz gebeben sei‹ und daß er (so eine Rotznase!), statt dem Droschkenkutscher die Hände zu binden, die Hände gefaltet und geweint und sehr gebeten habe? Ach, dieses dumme Frauenzimmer! Sie bildet sich ein, was sie da erzählt, sei furchtbar rührend, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist der betrunkene Proviantbeamte da weit klüger als diese Person. Bei ihm sieht man wenigstens ohne weiteres, daß er ein Liedrian ist und den letzten Rest seines Verstandes durch Trinken ruiniert hat; aber diese Deutschen haben alle so etwas Affektiertes, Ernsthaftes … Sehen Sie nur, wie sie dasitzt und die Augen aufreißt. Sie ärgert sich! Sie ärgert sich! Ha-ha-ha! Kche-kche-kche!«

      Katerina Iwanowna, die nun sehr vergnügt geworden war, kam auf alles mögliche zu reden und begann unter anderm zu erzählen, wie sie mit Hilfe der erwirkten Witwenpension in ihrer Heimatstadt T… ganz bestimmt ein vornehmes Mädchenpensionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Katerina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren, und so erging sie sich denn alsbald in der Ausmalung der verlockendsten Einzelheiten. Auf einmal befand sich in ihren Händen (man wußte gar nicht, woher es so plötzlich gekommen war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verstorbene Marmeladow in der Schenke Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, als er ihm erzählte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Entlassungsfeier aus dem Institut »in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten« den Schleiertanz getanzt habe. Dieses Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwanowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung zur Gründung eines Pensionates nachzuweisen; hauptsächlich aber hatte sie es in der Absicht bereitgehalten, »den beiden aufgedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen« gehörig das Maul zu stopfen, wenn sie zum Gedächtnismahle kämen, und ihnen klar zu beweisen, daß sie »aus einem sehr vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause stamme, die Tochter eines im Oberstenrange stehenden Beamten und jedenfalls etwas weit Besseres sei als so manche abenteuernden Frauenspersonen, von denen es in neuerer Zeit wimmele«. Das Belobigungszeugnis ging sofort unter den betrunkenen Gästen von Hand zu Hand, was Katerina Iwanowna nicht verhinderte, weil darin wirklich en toutes lettres angegeben war, daß sie die Tochter eines Hofrates, Ritters mehrerer Orden, und somit tatsächlich beinahe die Tochter eines im Oberstenrange stehenden Beamten sei. Einmal in Feuer geraten, ging Katerina Iwanowna unverzüglich dazu über, alle Einzelheiten des künftigen schönen, ruhigen Lebens in T… zu schildern; sie sprach von den Gymnasiallehrern, die sie auffordern werde, in ihrem Pensionat Unterricht zu erteilen, dann von einem hochangesehenen alten Herrn, einem Franzosen Mangot, bei dem noch Katerina Iwanowna selbst, als sie das Institut besuchte, Französisch gelernt hatte und der auch jetzt noch in T… seinen Lebensabend verbringe und gewiß für einen sehr mäßigen Preis an ihrer Anstalt unterrichten werde. Schließlich kam sie auch auf Sonja zu sprechen, die mit ihr zusammen nach T… ziehen und ihr dort in allem zur Hand gehen werde. Aber hier prustete auf einmal jemand am Ende des Tisches vor Lachen los. Katerina Iwanowna tat zwar, als wolle sie dieses Lachen aus Verachtung ignorieren, begann aber sofort mit absichtlich lauterer Stimme eine begeisterte Lobrede über Sonjas unzweifelhafte Befähigung, ihr als Gehilfin zu dienen, über ihre Sanftmut, Geduld, Selbstverleugnung, vornehme Gesinnung und Bildung; dabei stand sie auf, klopfte ihr die Wange und küßte sie zweimal auf das herzlichste. Sonja wurde glühendrot; Katerina Iwanowna aber brach plötzlich in Tränen aus und sagte von sich selbst, sie sei eine nervöse, dumme Person, und ihr Nervensystem sei jetzt gar zu sehr angegriffen. Übrigens sei es Zeit, zum Schluß zu kommen, und da das Essen zu Ende sei, solle der Tee gebracht werden. In diesem Augenblick wagte Amalia Iwanowna, höchst verdrossen, daß sie bei der ganzen Unterhaltung nicht zu Worte gekommen war und man ihr gar nicht einmal hatte zuhören mögen, einen letzten Versuch und erlaubte sich, ihren Ärger verhehlend, an Katerina Iwanowna die durchaus vernünftige, geistreiche Bemerkung zu richten, es müsse in dem künftigen Pensionat besondere Aufmerksamkeit auf die reine Wäsche der jungen Mädchen verwandt werden und es sei unbedingt eine tüchtige Dame erforderlich, die ordentlich auf die Wäsche zu achten habe und auch darauf, daß die jungen Mädchen nicht heimlich bei Nacht Romane läsen. Katerina Iwanowna, die tatsächlich sehr abgespannt und müde war und das Gedächtnismahl völlig satt hatte, entgegnete ihr schroff, daß sie Unsinn schwatze und nichts davon verstehe. Die Sorge für die Wäsche sei Sache der Kastellanin und nicht der Vorsteherin eines vornehmen Pensionates, und was ihre Bemerkung über das Romanlesen anlange, so sei diese einfach taktlos, und sie müsse sie ersuchen zu schweigen. Amalia Iwanowna bekam einen roten Kopf und bemerkte bissig, sie habe es nur gut gemeint, und sie habe es immer mit ihr sehr gut gemeint, habe aber schon seit langer Zeit nicht die Miete für die Wohnung erhalten. Katerina Iwanowna fand sofort eine kräftige Erwiderung: Amalia Iwanowna lüge, wenn sie sage, daß sie es gut meine; denn noch gestern, als die Leiche noch auf dem Tische gelegen habe, habe sie ihr wegen der Miete zugesetzt. Darauf bemerkte Amalia Iwanowna ohne jeden inneren Zusammenhang, sie habe in Katerina Iwanownas Auftrag jene beiden Damen eingeladen; aber die Damen seien nicht gekommen, weil sie feine Damen seien und nicht zu unfeinen Damen gehen könnten. Demgegenüber wies Katerina Iwanowna sie nachdrücklich darauf hin, daß sie eine Dreckliese sei und über wahre Feinheit gar kein Urteil habe. Amalia Iwanowna nahm das nicht so hin, sondern erklärte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer beim Gehen die Hände in Taschen gesteckt