Kathrin Singer

Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman


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Zenza sagte, dass er immer bis Mittag schlafe. Franzi war das recht. Nachdem sie gefrühstückt hatte, machte sie sich gleich auf den Weg hinunter ins Tal. Gefahren hatte sie jetzt nicht mehr zu fürchten, die Wildnis lag hinter ihr. Aber sie schaffte es nicht, an der Sennhütte vorbeizugehen. Mit aller Gewalt zog es sie zu dem kleinen Stepherl. Sie spürte, dass er ihr Herz erobert hatte und dass ihm all ihr Mitgefühl gehörte. Nicht, weil er Ulis Sohn war, sondern weil er ein so trauriges Leben führte und niemand ihn wollte.

      Schon von Weitem sah sie, dass der kleine Junge inmitten der Kühe auf der Weide saß. Er wirkte verloren, sein Blick war stumpf, als interessiere ihn überhaupt nichts.

      Franzi ging zu ihm und zog ihn auf die Beine.

      Er sah sie zuerst erschrocken an, dann etwas lebhafter. »Bist du wieder da?«, fragte er.

      »Ja, ein Weilchen werde ich bei euch bleiben, Stepherl, aber dann muss ich weiter.« Franzi griff nach seiner Hand. »Komm, wir gehen auf die Bank vor der Hütte. Dort setzen wir uns hin.«

      »Aber Mama will nicht, dass ich auf der Bank sitze, sie sagt immer, ich soll ihr aus den Augen gehen.« Das kam holperig über Stepherls Lippen.

      »Jetzt wird sie nicht schimpfen.« Franzi genügte es nicht, sich neben den Jungen auf die Bank zu setzen, sie zog ihn auf ihren Schoß und drückte ihn an sich.

      Da kam Nani aus der Hütte. »Ach was, bist schon wieder zurück?«, fragte sie spöttisch. »Wohl umgekehrt, weil es zu gefährlich war.«

      »Nein, ich bin nicht umgekehrt, ich war bei Ulis Onkel.« Nun zuckte Franzi mit den Schultern. »Es hat alles nichts genutzt.«

      »Wenn es um Uli geht, nutzt nichts etwas.« Nani wollte Stepherl von Franzis Schoß ziehen. »Lass dich nur mit dem nicht ein, sonst hängt er wie eine Klette an dir, und ich hab’ es dann wieder schwer mit ihm.«

      »Lass ihn bei mir«, bat Franzi. »Ich mag den Kleinen.«

      »Du musst ja auch nicht für ihn sorgen, dir hat Uli das Leben nicht verdorben.« Nani musterte Franzi. »Irgendwie bist du eine komische Heilige. Begibst dich auf die Suche nach Uli und bemutterst seinen Sohn. Aber den Uli kannst du nicht mehr finden.« Plötzlich brach Nani erschrocken ab.

      Franzi sah sie erstaunt an.

      »Du weißt also doch etwas von Uli, Nani.«

      Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich weiß gar nichts von ihm, als dass er hier kurz eingekehrt ist und ich ihm die Hölle wieder so heiß gemacht habe, dass er es eilig hatte weiterzukommen. Bei meinem Vater hat er sich dann gar nicht erst sehen lassen.« Den letzten Satz sagte Nani sehr betont und fügte noch hinzu: »Nein, in der Schutzhütte war er nicht. Er muss gleich weitergegangen sein. Aber jetzt will ich nicht länger über ihn reden. Gib den Buben jetzt her, ich hab’ noch viel Arbeit. Da muss er ins Heu. Dort ist er am besten aufgehoben.«

      Stepherl klammerte sich an Franzi. »Aber im Heu ist es doch so finster«, klagte er.

      »Hör auf mit dem Gewinsel«, herrschte ihn seine Mutter an und zog ihn so ruckartig von Franzis Schoß, dass er ins Stolpern kam und hinfiel. Die spitzen Steine vor der Bank schürften ihm beide Knie auf, doch er tat keinen Muckser.

      »Hast du Verbandsstoff?«, fragte Franzi erschrocken. »Und auch etwas Jod? Die Wunden müssen gesäubert werden.«

      »Jetzt reicht’s mir aber«, schimpfte Nani. »Meinst du, ich hab’ so viel Zeit, mir solche Umstände zu machen?« Sie zerrte Stepherl mit sich und schob ihn in die Heukammer neben der Hütte. »Und da drin rührst du dich nicht«, befahl sie ihm noch.

      Franzi war maßlos erschüttert, aber sie sah ein, dass sie dem Jungen nicht beistehen konnte. Sie hatte kein Recht dazu. Ohne noch etwas zu dem Vorfall zu sagen, verabschiedete sie sich und ging schnell den Hang hinunter. Sie wusste, dass sie Stepherl nicht vergessen würde.

      *

      Josef Feistauer stand mitten auf dem Hof, als Franzi den Steig heraufkam. Es sah aus, als habe er nichts anderes getan, als nach ihr Ausschau gehalten. Die letzten Schritte kam er ihr entgegen. »Dass du nur wieder da bist, Dirndl«, sagte er mit rauer Stimme. »So etwas darfst du mir nie mehr antun, dass du mich so lang in Angst und Sorge versetzt.«

      »Ich bin ja heil zurückgekommen, Vater«, versuchte ihn Franzi zu beruhigen, als sie miteinander in die Wohnstube gingen. Dort fiel sie erschöpft auf einen Stuhl.

      »Und?«, fragte der Vater. »Hast du etwas auskundschaften können?«

      »Nicht mehr, als wir schon wussten, Vater. Oder war es doch ein bissel mehr?« Sie dachte noch einige Sekunden nach, dann erzählte sie ihrem Vater, was Korbinians Onkel über Uli gesagt hatte, vor allem aber, dass es da droben ein Kind gab, dessen Vater er war.

      »Auch das noch«, stöhnte Josef Feistauer. »Da kannst du ja sehen, was für ein Hallodri Uli war. Dirndl, mit dem wärst du in dein Unglück gerannt. Hör auf zu grübeln und zu trauern. Der Uli hat das nicht verdient.«

      »Das wird mir sehr schwer fallen, Vater.« Franzi strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich werd’ die Gedanken an den armen Buben nicht los. Er ist ein so liebes Kerlchen. Wenn er einen mit seinen großen dunklen Augen ansieht, scheint er nur um Liebe zu betteln. Die Mutter hat kein Herz für ihn, und der Großvater ist ein rabiater Mann. Glaub mir, ich habe mich vor ihm gefürchtet. Der ist zu allem fähig. Ja, dem traue ich ganz schlimme Sachen zu.«

      Franzi lehnte sich zurück und sah zum Fenster hinaus. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, fragte sie zögernd: »Vater, meinst nicht, dass auf unserem Hof ein Platz für so ein armes Hascherl wär’, wie es der Stepherl ist?«

      »Was meinst du jetzt?«, fragte der Vater beunruhigt.

      »Was ich mein’? Dass ich den Stepherl zu uns nehmen könnt’.«

      »Dem Uli seinen Sohn, um den er sich nicht gekümmert hat. Aber Dirndl …«

      »Red nicht weiter, Vater. Wenn ich mich um den Jungen sorg’, denk’ ich nicht an Uli. Mir ist nur, als wär’ ein Stück von meinem Herzen da droben geblieben. Mich verfolgt es jede Stunde, wie das kleine Stepherl behandelt wird. Eines Tages wird er eingehen wie eine Pflanze ohne Licht. Schau, Vater, bei uns könnt’ er es so gut haben. Wir hätten Platz für ihn und auch immer wieder Zeit, uns mit ihm zu befassen. Ich seh’ das richtig vor mir, wie er hier aufblühen würd’. Du magst doch Kinder auch gern.«

      »Ja, schon, Franzi, aber es ist nicht gut, so schnelle Entschlüsse zu fassen. Du weißt auch gar nicht, ob dir diese Nani den Jungen in Pflege geben würde.«

      Jetzt lächelte Franzi verbittert. »Die will ihn doch nur los sein. Ich bin sicher, dass sie ihn mir mitgeben würd’. Dann kann sie vielleicht ihren reichen Bauern heiraten, der auch von Stepherl nichts wissen will.«

      Franzi beugte sich vor und griff nach den Händen des Vaters. »Lass mich doch den Buben holen«, bat sie. »Der Weg bis zur Sennhütte ist doch nicht allzu beschwerlich. Ich könnte die Hucke mitnehmen und Stepherl auf meinen Rücken laden, wenn seine kleinen Beine den Marsch nicht schaffen sollten.«

      »Brauchst du noch mein Jawort?«, fragte der Vater. »Du hast dich doch schon entschieden. Das hört man aus jedem deiner Worte. Also meinethalben, wenn du meinst, dass wir ein gutes Werk tun sollten, dann hol den Buben zu uns. Wir beide werden dann vielleicht auch wieder ruhiger werden, wenn wir für ein Kind zu sorgen haben. Jetzt ist doch bei uns alles in Unordnung geraten. Zuerst hast du dich von Korbinian getrennt, und nun die Aufregungen um Ulis Verschwinden. Ja, es sollte wieder die alte Ordnung bei uns einkehren, dann wird uns um vieles wohler sein. Übrigens war Korbinian heut’ in aller Früh schon da, als du noch gar nicht zurück sein konntest. Er muss fürchterliche Angst um dich gehabt haben.«

      Josef Feistauer seufzte. »Ja, das mit Korbinian hätt’ nicht passieren dürfen. Er ist ein gestandenes Mannsbild, bei dem du immer gut aufgehoben wärst. Dass du dir auch von Uli so hast den Kopf verdrehen lassen. Das werd’ ich nie begreifen.«

      »Geschehen ist geschehen, Vater. Mach mir damit das Leben nicht schwer.