Frau und Tochter hatte alle auf den ersten Blick zu Verbündeten gemacht. Die vier waren mit Taschenlampen ausgestattet. Hauptwachtmeister Kruse, ein behäbiger Endfünfziger mit Bauch und blauen flinken Äuglein, die sich tief in den vollen rot geäderten Wangen versteckten, hielt seiner Hündin Senta gerade ein Shirt von Angela vor die Nase, als Matthias und seine Frau zu der kleinen Truppe stießen.
»Sie bleiben aber lieber hier«, sagte der Landdoktor zu Angelas Mutter. »Denken Sie an Ihr Knie.«
»Das muss mein Knie aushalten«, erwiderte Monika forsch, was Ulrike Brunner zu der leisen Bemerkung verführte: »Na also, es geht doch.«
»Hat Angela hier in der Gegend irgendeinen Lieblingsort?«, erkundigte sich Christian Kofler bei ihren Eltern. »Vielleicht hat sie sich dorthin zurückgezogen, um erst einmal Ruhe zu haben.«
Die Häferles sahen sich fragend an.
»Nicht, dass ich wüsste«, meinte Axel schulterzuckend.
»Meine Schwester hat mir mal erzählt, dass Mama früher, als ich noch nicht auf der Welt war, mit ihr immer zu einem kleinen Holzhäuschen spaziert ist und ihr dort Geschichten von Hexen und Trollen aus dieser Gegend erzählt hat«, sagte Jenny jetzt atemlos.
»Ja, das Häuschen oberhalb des Wasserfalls«, erinnerte sich Monika erstaunt. »Aber ich glaube nicht …«
»Zweifel und Unentschlossenheit sind jetzt völlig unangebracht«, wies ihr Mann sie energisch zurecht. »Das ist ein Hinweis, dem wir nachgehen müssen. Außerdem liegt der Wasserfall hier in der Nähe. Fangen wir mit der Suche dort erst einmal an.«
»Ein guter Plan«, stimmte ihm Wachtmeister Kruse zu.
»Gib mir mal Angelas Shirt«, bat Matthias Brunner ihn. Die beiden kannten sich auch. »Lump soll ebenfalls eine Nase voll bekommen. Er ist ein ausgebildeter Jagdhund.«
»Meine Senta ist aber ein vielfach prämierter Suchhund«, trumpfte Kruse auf, der nichts über seine Amtsautorität in dieser Sache kommen lassen wollte.
Trotzdem reichte er dem Landarzt das Shirt.
»Können wir?«, fragte Christian voller Ungeduld.
Daraufhin setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Von der Landstraße aus sah man jetzt nur noch helle Scheinwerfer und kleinere Lichter, die über die feuchte Wiese geisterten. Dann wurden sie vom schwarzen Wald verschluckt.
*
Die kleine Gruppe streifte beiderseits des Weges durch den Wald, zu dem sie Senta geführt hatte. Der Schäferhund hatte die Nase vorn, Lump lief hinter ihm her. Er tat sein Bestes, aber sein Herrchen hatte ihn nun einmal auf den Schweißgeruch des Wildes abgerichtet und nicht auf den Parfümduft eines Menschen, was Wachtmeister Kruse nicht ohne Triumph in den flinken Äuglein registrierte.
Dann erreichten sie das obere Ende der Klamm. Senta blieb stehen, wirkte orientierungslos. Nun schien Lump seine Chance zu wittern. Er bellte auf, zerrte sein Herrchen auf dem Fußsteig am Hang der Schlucht entlang bergab. Auf der Mitte des Weges blieb er stehen und kläffte in die Tiefe. Alle waren ihm gefolgt.
»Da, seht mal, dort am Hang liegt ein Rehkitz!«, rief Kruse aus. »Das hat Lump gerochen.«
Plötzlich begann Senta zu bellen. Jeder hielt den Atem an.
»Hier, der Weg …!«, rief Christian Kofler und leuchtete auf die Stelle, wo ein Stein weggebrochen war.
»Da unten! Das ist doch Angela!«, schrie Jenny.
Ihr Echo schallte unheimlich von den Wänden zurück.
Jetzt sahen alle die zierliche Gestalt, die wie eine weggeworfene Puppe auf den Steinblöcken lag.
»Sie hat sich das Leben genommen«, sagte Monika Häferle und begann zu wanken.
Christian konnte sie gerade noch auffangen. Doch er hielt sie nicht lange fest, sondern drückte die Bewusstlose dem Wachtmeister in die Arme. Dann kletterte er in die Tiefe.
»Seien Sie vorsichtig!«, rief der Landarzt ihm nach. »Ich rufe die Bergwacht an.«
*
Nach ein paar Metern hörten die Möglichkeiten zum Klettern und Festhaken auf. Christian musste springen, wenn er zu Angela kommen wollte. Sein Herz hämmerte, sein Puls pochte, nicht etwa vor Anstrengung oder gar Angst um seines eigenes Leben, sondern vielmehr aus Panik um die geliebte Frau. Wie er aus der Entfernung im Schein der Taschenlampe sehen konnte, hatte sie die Augen geschlossen. Sie schien ohnmächtig zu sein. Oder etwa tot?
Ohne lange zu überlegen, sprang er ab und landete punktgenau neben Angela auf dem Steinbrocken. Er kniete sich neben sie, nahm ihr Handgelenk und atmete auf. Unter ihrer zarten Haut konnte er ihr Blut pochen spüren. Sie lebte also. Mit Sicherheit war sie jedoch verletzt.
»Sie lebt!«, schrie er zu den anderen hinauf, woraufhin sich Monika, ihr Mann und deren Tochter in die Arme fielen.
Auch in seiner Kehle regte sich ein lauter Schluchzer. Angela lebte. Nur das zählte erst einmal.
»Bewegen Sie sie nicht«, gab ihm der Landarzt von oben Anweisung. »Sie könnte am Rücken verletzt sein. Ich steig jetzt zu Ihnen hinunter.«
»Alles klar«, rief Christian zurück. Dann ging er neben der geliebten Frau auf die Knie, beugte sich über sie.
»Mein Liebling, meine Süße …« Er stammelte nur mehr, bat sie um Verzeihung, sagte ihr, wie sehr er sie liebte. Die Worte kamen ihm von selbst über die Lippen, während er immer wieder über ihre kühle bleiche Wange strich. Und dann … Es kam ihm wie ein Wunder vor. Dann öffnete sie die Lider.
*
Angela träumte.
Alles tat ihr weh, aber Christian war bei ihr. Sie hörte seine Stimme die schönsten Liebesworte sagen, sie spürte seine zärtliche Hand auf ihrer Wange, seine Lippen auf ihrem Mund, atmete seinen Geruch ein. Und trotzdem war ihr kalt. Eiskalt und feucht. In ihrem Kopf dröhnte es, als würde ein ganzes Orchester darin spielen. Ihr war speiübel. Ein Albtraum.
Sie öffnete die Lider. Von Ferne wie durch einen milchigen Schleier sah sie ein Gesicht über sich. Christians Gesicht.
»Süße, ich bin so glücklich …«
Es war seine Stimme, die sie hörte, sein Mund, der sie anlächelte, seine dunklen Augen, aus denen jetzt eine Träne auf ihre Wange tropfte. Aber wahrscheinlich irrte sie sich. Christian war doch nicht mehr da. Sie musste immer noch träumen.
»Ich liebe dich«, murmelte sie traumtrunken und schloss wieder die Augen, um in ihren Traum zurückzufinden.
Doch nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, konnte sie nicht mehr in die Tiefe ihres Unterbewusstseins eintauchen und taumelte in dem Grenzbereich zwischen Schlaf und Wachsein. Sie hielt die Lider geschlossen, wollte an den schönen Bildern noch ein wenig festhalten. Christian hatte neben ihr gesessen, sie gestreichelt und zärtlich mit ihr gesprochen.
»Ich liebe dich auch«, hörte sie ihn jetzt sagen.
Dieses Mal war sie sich fast sicher, dass sie nicht mehr träumte. Aber konnte das sein?
Sie riss die Lider auf.
Er war zum Greifen nah. Leibhaftig.
»Du?« Ihre Stimme klang brüchig.
Jetzt erst fragte sie sich, was passiert war. Wo befand sie sich überhaupt? Nicht zu Hause in ihrem Bett, dessen war sie sich sicher. Sie wollte sich bewegen, sich aufrichten, doch Christians Hand drückte sie auf den Boden, der in ihrem Rücken schmerzte.
Dann setzte sich ihre Erinnerung Stück für Stück zusammen.
Sie war in die Schlucht gefallen. Sie hatte das Rehkitz entdeckt, war zu nah an den Rand getreten, der Boden hatte sich gelöst.
»Was ist mit dem Kitz?«, fragte sie nun hellwach.
»Dr. Brunner wird sich um es kümmern, nachdem er dich medizinisch versorgt hat.«