Joachim Ringelnatz

Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band)


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mittelste Füllung von einem Knopf an der Hose von dem Riesen Tabarz.«

      Der Professor wurde in diesem Augenblick vom Steward abgerufen.

      In Nipps Kabine war eingebrochen worden. Fritzsche hatte, ohne böse Absicht, nur aus Neugierde, das Fliegenspind entdeckt. Und weil er den Käse und die Erdbeeren darin für die Hauptsache und die Fliege und den Pferdedung für die Nebensache ansah, so hatte er die Hauptsache aufgefressen und das Nebensächliche zerquetscht.

      Der arme Pilmartine

       Inhaltsverzeichnis

      Schon seit Wochen hatten Plakate verkündet, der Franzose Pilmartine würde einen neuen Fallschirm vorführen. Auf der Siebenhenkerwiese war ein 30 Meter hoher Holzturm erbaut. Und an dem Sonntag strömten die geputzten Einwohner der kleinen Stadt hinaus.

      Es ging vergnüglich, festlich und spannend zu, wie bei jeder ähnlichen Veranstaltung, und als Monsieur Pilmartine in einem Automobil auf der Wiese eintraf, wurde er mit Händeklatschen empfangen. Es folgte eine Ansprache, Musik. Dann sah man den Franzosen unten am Treppenansatz des Turmes verschwinden und bald darauf oben auf der Plattform des Turmes erscheinen, wo er einen ungeheuren Schirm aufspannte.

      Totenstille trat ein. Nur der infame Lümmel, der Fidje Pappendeik, der Lehrling vom Bürstenhändler Hohmann, benahm sich auf dem Stehplatz lausejungenmäßig, indem er unentwegt laut grölte: »Abfahrt! Auf Wiedersehen! Adieu!«

      Das weite Publikum zischte: »Pst!« Man rief empört: »Maul halten!« und schließlich: »Raus mit dem Flegel!«

      Aber Fidje Pappendeik überschrie alle: »Laßt mich doch, ich fahre jetzt nach dem Monde!« Damit sprang er über die Barriere, lief in die abgesperrte innere Wiese, wo außer einem Arzt, einem Schutzmann, einem Fahrrad, einer Bahre und zwei Sanitätern sich nichts und niemand befand. Fidje Pappendeik aber sprang mit behender Schnelligkeit auf das Fahrrad, fuhr ein Stück über die holperige Wiese hin, und auf einmal – – ehe jemand daran dachte, den Störenfried – – auf einmal – ohne daß irgend jemand bemerkte – – niemand ahnte oder war daraufgefaßt – – kurz, auf einmal hob sich das Fahrrad, und Fidje Pappendeik fuhr auf einem ganz gewöhnlichen Fahrrad, nicht anders, als wie jeder Radfahrer fährt, fuhr aber durch die Luft, auf, über Luft, fuhr schräg aufwärts in die Wolken.

      Kurzes Fluchen. Dann tausendfältiges »Ah!« – »Bravo!« Begeistertes Schreien.

      Dieses Phänomen war unbeschreiblich aufregend, packend, verblüffend. Hinterher behaupteten alle Teilnehmer, es hätte eine Stunde gedauert. Und vollzog sich so schnell! Denn Fidje Pappendeik mochte noch keine hundert Meter zurückgelegt haben, unten schoß man Gratulationen ihm nach – als er ein schnelleres Tempo anschlug und bald danach zwischen zwei Lämmerwölkchen verschwand.

      Flüche und Verwünschungen wurden laut. Dem Arzt war sein Fahrrad, Herrn Hohmann sein Lehrling, den alten Pappendeiks ihr Einziger und einem Zuckerbäcker sein Hauptschuldner entschwunden. Kein Mensch hatte mehr an Pilmartine gedacht. Darüber gebärdete sich der Franzose so wütend, daß er ausrutschend ohne Fallschirmvom Turme fiel; und weil auch sein Genickbruch vom Publikum über dem höheren Ereignis unbeachtet blieb, pumpten sich nun auch der Impresario und das pekuniär und ideell beteiligte Festkomitee mit Zorn auf. Half aber nix.

      Die Stadt, die Provinz, die Hauptstadt, die Sportwelt, die Wissenschaft beschäftigten sich mehr und mehr und nach zwei Jahren weniger und weniger mit dem Wunder Fidje Pappendeiks Himmelfahrt. Kam auch nichts heraus. Denn einwandfrei ward nachgewiesen: daß der Sanitätsrat nicht mit im Spiel gewesen war, daß sein Fahrrad ein durchaus normales war und von Pappendeik gestohlen wurde und daß Pappendeik selber einen in jeder Beziehung ordinären Menschen und Lehrling darstellte.

      Da Vater Pappendeik das Fahrrad und den Zuckerbäcker sowie einige Beschwichtigungen bezahlte, so blieb nichts übrig als eine sich mehr und mehr entstellende Erinnerung an eine Massenvision und an jemanden, der wirklich weg war.

      Drei Jahre waren nach dem Vorfall vergangen, als der Bürstenhändler Hohmann eines Nachts durch Straßenlärm und Glassplitter geweckt wurde. Draußen stand fidel Fidje Pappendeik mit dem Fahrrad.

      Lediglich aus Neugierde nahm Herr Hohmann den alten Lehrling wieder auf und war alle Welt zu diesem freundlich. Aber weder dem Bürstenhändler noch irgend jemand anderem, nicht einmal seinen Eltern erzählte Fidje auch nur das Geringste von dem, was er erlebt hatte oder wo er gewesen wäre oder wie er so habe fliegen können. Es kamen Petitionen, Reporter, Professoren, jedoch wenn nicht schon der eifersüchtige Hohmann diese endlosen Wißbegierigen aus dem Hause warf, so erstickte sein Lehrling jedes Interview im Keime, indem er sich plötzlich blödsinnig stellte und stumm Grimassen schnitt oder alle Fragen konstant mit Kopfschütteln beantwortete oder auch gar zu aufdringliche Beharrlichkeit durch noch aufdringlicheres unanständiges Benehmen in die Flucht jagte. Fidje Pappendeik war der verhaßteste Mensch.

      Aber obwohl jeder Bürger gelegentlich jedem Bürger einmal versichert hatte, wie er für seine Person es nicht für der Rede wert hielte, sich mit einem unreifen Bengel und einer Jahrmarktsgaukelei noch länger zu befassen, so kochte und gärte doch überall eine alles Dagewesene übertreffende Neugierde. Das Gemüt einer ganzen Stadt blieb in qualvoller Unordnung. Längst war das Fahrrad verrostet, das man so oft photographiert hatte, ohne daß irgend etwas Auffälliges daran zu entdecken war. Zahllose Bücher waren ohne Resultat geschrieben worden. Und Fidje Pappendeik lebte harmlos vergnügt, durchschnittsmäßig dahin; ohne etwas zu verraten und ohne davon Notiz zu nehmen, daß ein bohrendes Fragezeichen von ihm ausgehend durch die Welt wucherte, welches an Bedeutung beispielsweise das Shakespeare-Bacon-Geheimnis übertraf. Hohmann kündigte seinem Lehrling.

      Alle Mitbürger ignorierten den grünen Jungen. Nur der Kommerzienrat Dr. Ernst Levin bewies den Mut zu einer Sympathiebezeugung für Fidje, indem er ihm ein stattliches Vermögen schenkte; starb allerdings gleich darauf an einer Darmfistel.

      Fidje Pappendeik war reich geworden, lebte indessen nicht viel anders als bisher, harmlos, vergnügt, durchschnittsmäßig, ohne zu verraten und ohne Kenntnis zunehmen. Alles bahnte Versöhnung mit ihm an und haßte ihn insgeheim noch grimmiger.

      Weil eine ganze Stadt zu ersticken drohte, war es ein Verdienst des Staatsanwaltes Kirschrot, daß er einen Plan ersann zur sicheren und würdevollen Lüftung des Mysteriums.

      Kirschrot bestach drei Gasarbeiter mit Enzianschnaps. Die drei Gasarbeiter erhoben Anklage gegen Fidje Pappendeik und beschuldigten ihn:

      1 die Tochter des einen Gasarbeiters entführt und verführt zu haben,

      2 im Ausland Spionage getrieben zu haben,

      3 als fanatischer Anhänger einer kirchlichen Sekte zwei Waisenkinder totgetreten und beraubt zu haben.

      Dies alles verübt während der drei Jahre nach seinem Start von der Siebenhenkerwiese.

      Dieser hochsensationelle sexual-politische Ritualdoppelraubmord-Prozeß mußte unter freiem Himmel verhandelt werden. Die gesamte Einwohnerschaft, das rostige Fahrrad und die Siebenhenkerwiese waren zugegen. Die Verhandlung gestaltete sich nach der üblichen Einleitung etwa folgendermaßen:

      Staatsanwalt Wo fuhren Sie zunächst hin?

      Angeklagter In die Luft.

      Staatsanwalt Hatten Sie ein bestimmtes Ziel und welches?

      Angeklagter Ja, den Mond.

      Staatsanwalt Erreichten Sie ihn?

      Angeklagter Nein, ich verirrte mich und geriet auf den Fixstern Glyzerin.

      Bewegung im Publikum.

      Staatsanwalt Was taten Sie dort? Wie ging es zu? Wie lange blieben –? Erzählen Sie der Wahrheit gemäß und recht ausführlich. Atemlose Stille.

      Angeklagter Auf Glyzerin geht es genauso zu wie bei uns, bloß daß die Menschen dort nur von Leberwurst leben. Heiterkeit.

      Staatsanwalt Und was taten Sie