Joachim Ringelnatz

Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band)


Скачать книгу

seine Augen im Taue der Rührung.

      Dort oben sitzt der alte vergrämte Stadtrat Scholz einsam allmorgendlich vor seiner Zeitung. Was wird er empfinden, wenn er die Nachricht liest?

      – bis du etwas Tüchtiges ehrlich geworden bist, was immer es sei.

      Was immer es sei! Und es war ein Beruf ehrlich wie irgendeiner, nicht so ansehnlich, so glänzend wie der seiner gräflich besonnten Schwester. Nein, seine Bahn war grau und glatt, aber –

      Und Fortezza durchging wie ein tüchtiger Architekt noch einmal, am einzelnen prüfend, den einfachen, etwas sentimentalen, aber durchaus gewissenhaften Bau seiner Weltanschauung und fand alles sicher und wohlgefügt bis auf das Dach, das Höchste. Das war übel, planlos und lückenhaft errichtet.

      Über die Begriffe Gut und Schlecht, Gott, Teufel, Zufall kam Pero nicht mit sich ins Reine und wollte es doch, gerade an jenem Tage. Immer tiefer quälte er sich ins Unentwirrbare. So kam es, daß er, an der Stätte der Entscheidung angelangt, von einer Unruhe befallen ward, welche die Sicherheit zu vernichten drohte, die er sich durch monatelanges Üben erworben hatte.

      Was ihn äußerlich auf dem freien geschmückten Platze umgab, dieses große, festliche Sammeln, das Tausendgeschwätz, das Wehen und Winken, es beeinflußte ihn kaum; daran war er gewöhnt.

      „Pero Fortezza,“ raunten kenntnisstolze Stimmen bei seinem Erscheinen am Start. Andere fügten hinzu: „Der Italiener.“

      Er ward von einem Komitee begrüßt und grüßte wieder, sprach mit Berufsgenossen Formelles, Sachliches, Fachliches; wechselte in einer notdürftigen Garderobe seine Kleidung, ließ sich eine Tasse Kaffee reichen und warf ein Minimum Arsenik hinein; reihte sich grell kostümierten, meist namensbekannten Männern an, traf unter Beistand eines feiertäglich geputzten Schlossers mancherlei Anstalten zur Fahrt um viel. Und vollzog das wie unbewußt, mechanisch, gewohnheitsmäßig; denn während er unauffällig mit dem Daumen kreuzweis über seine Brust fuhr, wo sich unter dem purpurroten Trikot ein geweihtes Zweiglein Immergrün verbarg, dachte er an sein früh verstorbenes Schwesterlein, von deren Sarg er das Immergrün vor Jahren gebrochen hatte, und flehte insgeheim: Lieber Gott, gewähre du. Ich will an dich glauben. Ich muß heute gewinnen: Einen Lorbeerkranz, ein großes Stück Gold und das alte Vertrauen eines entfremdeten Vaters.

      Würde der überirdisch gewaltige, unüberragbare Gott ihn erhören, er, der alles mit unbegreiflich höchster Weisheit lenkte? Würde er auf die weltliche Angelegenheit eines Stäubchens so eingehen, er, zu dessen Thron jede Minute unzählige solcher naiven Wünsche trug?

      Vielleicht war es zuverlässiger, in derlei Dingen zum Teufel zu halten. Denn die so taten, waren im Leben die glücklicheren. Und nach dem Tode? Bis dahin blieb Zeit.

      Werde ich Erster, so will ich an dich, Gott, glauben! – Es war Fortezza, als ob er ein riesiges umlocktes Zeusgesicht lächeln sähe. Er wandte den Blick ab und auf ein silbernes Kettchen, das seinen Arm kokett umspannte. Eine Münze hing daran, der letzte Groschen von einer gestohlenen Geldsumme.

      Teufel, Böser, ich weiß nicht, ob du bist. Aber erringe ich heute den ersten Preis durch deine Hilfe, so gehöre ich dir.

      Jedoch schließlich hängt alles an Menschenkraft und Menschenwitz und Zufall. Pero lachte ängstlich und griff unter den Sattel, wo ein rostiges Stück Hufeisen angebunden war; und Peros Finger zitterten ein wenig. Dann erfolgte ein Schuß. Musik und ein breiter Menschenmassenschrei zerrissen wie Donner die Luft, alles rückte, kreiste, verschwamm; und Pero hatte seine Ruhe zurück.

      Er arbeitete in klarer Anstrengung aufgesparter, gepflegter und gemessener Kraft. Vor ihm Grünweiß, neben ihm Schwarzgelb, hinter ihm Blau. Zur Linken wuchs die grüne Fläche vorbei: Wiese. Rechts wogte die schwarze Mauer: Menschen. Er gewahrte aber wohl nur ein Stückchen Gummi, von Geschwindigkeit gleichmäßig grau gefärbt, darunter einen Streifen ebenso grauen, entgegenrasenden Asphalts, zwei Fäuste um eine Stange Eisen geballt, etwas vom Purpurrot und etwas von der Fleischhelle seiner eigenen Erscheinung, dazu manchmal sekundenlang vorüberschwindend einen Pfahl, einen Arm, ein Tuch, eine Fahne oder aber das Kolorit eines Mitbewerbers.

      Schwarzgelb fiel ab.

      Gott hilf! Teufelsmünze hilf! Hufeisen.

      Grünweiß blieb zurück.

      Peros Ohren füllten sich mit dem stoßweisen Keuchen des Atems, dem Schnurren der Maschine und Bruchstücken von berauschendem Konzert. Zerrissenes verworrenes Stimmengebrause schwoll ihm von der schwarzen Mauer her zu, aus dem er mitunter einen einzelnen Ruf des Beifalls oder Tadels begriff.

      „Bravooo Robl!“ vernahm er; es galt den Farben grünweiß. Wieder tauchte Grünweiß an seiner rechten Schulter auf. Jähe Verzweiflung schien den lechzenden Pero rückwärts zu reißen, Wut der Eifersucht ihn vorwärts zu stoßen.

      Er erzwang noch ein Mehr, das Äußerste an Energie. Und hörte ein heißer gepfiffenes „Ihh, Ihh“; das kam aus der Lunge.

      Bahn ist grau, glatt, führt zu Kränzen. Lorbeerkränze! Ein Lorbeerkranz rollte vor dem Eifertollen her.

      Aber Grünweiß hielt sich zur Seite. „Bravooo Robl!“

      Lorbeerkränze rollten. Auf der Brust stach schmerzlich das Immergrün. Ein Kranz Immergrün rollte zwischen die Lorbeerkränze, ein Totenkranz von Schwesterleins Sarg. Lorbeerkränze. Totenkränze.

      „Bravooo Robl!“

      ‚Wenn ich jetzt die Kurve ansteige‘, dachte Pero, ‚schneide ich ihm den Weg ab‘, und er schoß rechts empor. Das war nach Fachbegriffen nicht anständig.

      „Pfui, Italiener!“ gröhlte der Pöbel. „Ihh, Ihh“ pfiff die Lunge. Lorbeerkränze räderten. Totenkränze, Ruhmeskränze rollten. Immergrün. Räder schnurrten, Atem schnaufte, Musik schmetterte, und dann kollidierte der Italiener Fortezza mit dem hiesigen Rennfahrer Robl. Letzterer kam mit leichten Hautabschürfungen davon, während Fortezza besinnungslos ins Hospital transportiert wurde, wo er, von Fieberphantasien gequält, hoffnungslos darniederliegt. (Wie verlautet, soll es sich gar nicht um einen Italiener, sondern um einen Deutschen namens Peter Scholz handeln.)

      Die Zeitung, welche die Notiz kundgab, wurde auch dem Stadtrat Scholz in das Erkerstübchen getragen. Er las sie nicht, sondern zerfaltete sie, um Schiffchen und Soldatenmützen zu formen, ungefähr zur selben Stunde, da man, viele Meilen davon entfernt, der von Wonne umflorten Chile Scholz einen Myrtenkranz ins Haar flocht, welcher sie zur Gräfin krönte.

      13

      Vornehm gemeisterte Musik, welche, tausend Stimmungen aufwühlend, gleichsam etwas Langzeitiges, es mochte sein ein Leben, wiedergab, in notenfremd gereihten Tönen, Akkorden und Melodien, strömte reich durch ein formen- und farbenschön eingerichtetes Zimmer. Es geschah, daß der Spielende Beethovens Seele berührte und unwillkürlich dahin geriet, jene Stelle des ersten Finale aus Fidelio kindisch wie mit der Naivität eines Unbeobachteten mitzusummen.

      O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben. Gräfin Chile hatte sich launig, leise vor ihrem Kanarienvogel am Fußboden auf ein Pantherfell ausgestreckt. Sie blies feinduftenden Zigarettenrauch in des Vogels silbernen Käfig, dessen Tür sie spielerisch mit einem Rosenstengel aufhakte.

      Alsbald huschte das gelbe Hänschen aus dem Bauer durchs Zimmer und in der Bahn eines noch kühlen Frühlingsluftzuges zu einem geöffneten Fenster hinaus.

      Der Graf senkte die Hände auf die Tasten und sagte traurig und vorwurfsvoll: „Der ist nun fort, kommt nimmer zurück.“

      Aber die Gattin entgegnete lächelnd: „Wohl ihm!“

      14

      Es sei genug mit dem, was ich gegeben. Ein jeder lebt’s, aber nicht vielen ist’s bekannt, und deshalb mochte ich einiges für einige deuten.

      Leser, willst du noch vernehmen, was aus dem entflogenen Vögelchen ward?

      Als es über das endlose kalte Steingebirge der Stadt flatterte, bald ermattet von der ungewohnten Flügelanstrengung, erschien ihm wohl ein Kirchhof wie eine grüne Insel.

      Denn