Joachim Ringelnatz

Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band)


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Schrei? Ernst und gleichsam warnend? Zei ... eit! – Nein, doch irgendein Ruf mit i muß es sein, der ausdrückt: Besinne dich! Die Zeit eilt und kehrt nie – nie ... ie – wieder.

      Die sieben Jahre kehren nie wieder. Arm und einsam verrannen sie, überreich an Glück und Liebe konnten sie sein. Er ist doch etwas ungemein Vornehmes an uns, dieser Trotz auf das Ausgesprochene. – Vielleicht klingt in dieser Minute auch Vaters Ohr. – – Unser Trotz wird nicht gebrochen sein, wenn wir uns wieder in die Arme fallen; er wird von beiden Seiten zurückgezogen, um einer höheren Aufgabe willen. – – Eilen sie doch alle, für ihr Blut, für ihr Vaterland einzustehen, auch die, welche die Heimat vergessen wollten oder sie hassen lernten. – – Auch ich werde für alle kämpfen, auch für die Brüder und ebenso für meinen Vater, sogar um die Erde, die Muttern deckt. – – Mein Gott, sich vorzustellen, daß Vater von reuiger Rückkehr sprechen oder an Vorwand – Krieg denken konnte – – nein! Ein deutscher Edelmann und Kaiser und Reich in Gefahr – –! Ich will meinen Schuldteil tilgen, ihn mit Blut abwaschen, und es spreche keiner von romantischer Wahnidee, von falscher Sentimentalität, Phrase oder Pose. – O großes Jahr, da in der Welt das Theatralische zur alltäglichen Wirklichkeit geworden ist! – Zwischen Feuer und Wasser will ich kämpfen, immer dort, wo die Gefahr gipfelt, allen voran, und nur mit dem Kreuz das geliebte Haus wieder betreten. – Gott gebe, daß sie mich nicht für dienstuntauglich erklären. – –

      Die blinden Passagiere stöhnten und gähnten immer häufiger, und da sie doch zu sehr aufeinander angewiesen waren, um sich gegenseitig zu ignorieren, so lehnte schließlich der Lange seine rechte Wange gegen die Brust des andern und ruhte ein wenig in dieser Abwechslung aus, bis ihn die linke Hüfte schmerzte. Dann wechselten sie die Rollen. Nicht Licht noch Dämmerung kündeten nach einer Ewigkeit den Morgen, sondern ein Konzert aus Poltern, Rufen und schweren Tritten, das durch Eisen- und Holzwände geschwächt wurde, den erfahrenen, angestrengt lauschenden Seeleuten jedoch wichtige, vertraute Vorgänge verriet.

      Der Lange klagte: »Ich habe Hunger wie ein Seeteufel. Wissen Sie, was ich jetzt tue? Ich ziehe mein Messer und untersuche der Reihe nach alle diese Kisten nach Freßbarem.«

      »Nein, mußt nicht!« wehrte der andere. »Wir wollen dem Steward keine Schweinereien machen; das scheint ein anständiger Kerl. – Gib mal deine Flosse her – so! Da liegt ein Paket mit Brot und Wurst. Und hier, in dieser Fuge – vorsichtig! Fühlst du's? – Darauf mußt achtgeben; es ist eine Rose darin, die darf nicht geknickt werden.«

      Dem Langen gefiel es herzlich und versöhnte ihn, daß jener bezüglich der Kisten so gewissenhaft dachte.

      »Was für eine Rose?«

      »Eine Rose aus Papageienfedern; ich kaufte sie in Brasilien vom Bumbootsmann für meine Braut.«

      »Haben Sie keine Eltern mehr?«

      »Nein.«

      »Geschwister?«

      »Keine. Mein einziger Bruder ist kürzlich mit einem Minensucher in die Luft gegangen.«

      »Hm! Traurig und doch schön. Ich habe zwei Brüder im Felde, Dragoner – – –«

      »Pst! Still!« zischte Klein. »Hörst du? Draußen ist schlimmes Wetter.«

      »Immerzu! Sagen Sie mal: Warum wollen – warum willst du eigentlich nach Deutschland?«

      »Was soll ich denn hier? Ich habe meine ganze Heuer, über vierhundertfünfzig Mark, aufgebraucht; die letzten sechzig Peseten gab ich dem Steward. Nun will ich erst mal zu meinem Mädchen nach Ostpreußen, na und dann werden sie mich einkleiden. Seewehr zwo.«

      »Freust du dich gar nicht darauf, Soldat zu werden?«

      Der andere lachte wie über eine törichte Frage. »Man muß doch. Es dienen jetzt doch alle.«

      »Gewiß, gewiß!« Und der Lange tastete die Kisten ab nach dem Paket, das er entfaltete. Er tastete den Umfang des Brotes und der Wurst ab und begann in derben Bissen zu schlingen. Dabei war es ihm nicht einmal möglich, seinen Oberkörper vollständig aufzurichten.

      Der norwegische Dampfer tutete. Ein Sirenenheulen wand sich empor. Das Quirlen der Schraube setzte ein und erschütterte den schwimmenden Eisenbau. »Hurra!« jauchzte der Lange, indem er den Nachbar knuffte. »Jetzt sind wir frei.«

      »Was hast du dem Steward für die Überfahrt gezahlt?« fragte dieser.

      »Hundert Peseten.«

      »Ja so, du bist von feinen Eltern.« Das war ohne Spott gesagt.

      »Ich besitze nur selbstverdientes Geld, aber ziemlich reichlich, und kann dir daher die weitere Heimreise mit Vergnügen bezahlen.«

      »Dazu gibt mir der Konsul in Genua Geld. Auch hier bekam ich täglich Unterstützung. Warst du denn nicht beim deutschen Konsul?«

      »Nein.«

      »Also hast du wohl auch keinen Paß?«

      »Nee.«

      »Das ist windig. Ich komme mit meinem Paß durch, aber du darfst dich beim Landen nicht kitschen lassen, sonst schicken sie dich gleich wieder zurück. Wenn wir also morgens einlaufen, dann laß uns ruhig noch bis abends in diesem Loch bleiben, bis die Schauerleute ausscheiden; und dann sehen wir zu, wie wir uns am Wachtmann vorbeikreuzen.«

      »Wir«, wiederholte der Lange gerührt; »Landsmann, nichts für ungut; ich habe dich anfangs für unliebenswürdig und gefühllos gehalten, weil du so schweigsam –«

      »Ja, ich kann nicht so reden wie du«, fiel ihm der andere ins Wort.

      »Du bist ein braver Kerl; laß uns gute Freundschaft halten.«

      »Schön!« sagte der Fremde und drückte mit ehernen Fingern die Hand, die nach der seinen tastete. Aus seiner Antwort war zu entnehmen, daß er amüsiert lächelte.

      »Wie heißt du eigentlich? – Wie? – Heinrich Klein? – – Ich? Ach, ich! – Ich heiße – mein Name ist Tilger, Rein – Reuhard Tilger.«

      In diesem Augenblick legte sich das Schiff stark nach Steuerbord über, so daß sie beide mit den Köpfen gegen die vordere Kistenwand schlugen. Damit fing es an, aufs heftigste zu stampfen und zu rollen. Sie mußten sich mit Rücken, Armen und Zehen feststemmen, um nicht hin und her geworfen zu werden. An Schlaf war vollends nicht mehr zu denken. So kämpften sie stundenlang mit erlahmender Muskelkraft gegen den zunehmenden Seegang an, stöhnten, fluchten, gähnten und schwiegen oder schwatzten eine Weile in schleppenden Sätzen über ihre Seefahrten, ihre nächste und fernere Zukunft, über Kleins ländliche Braut, über Krieg, Engländer und den lieben Gott. Dazwischen rechneten sie und taxierten, wie spät es ungefähr sei, und schwiegen wieder oder jammerten, hin und her rutschend, leise vor sich hin.

      Plötzlich brachen sie ein Gespräch ab.

      »Nun?« fragte der Lange.

      »Die Maschine stoppt?« fragte Klein.

      Im ersten Moment hat es für den Dampfermatrosen stets etwas Beängstigendes, wenn der permanente Rhythmus der Maschine unversehens aussetzt, wenn ihr Atem stockt. Für die Deutschen war besonderer Grund vorhanden, besorgt zu sein. Reuhard Tilger sprach es aus: »Die Franzosen!«

      »Kriegszone?« meinte Klein unsicher. »Nein, unmöglich.«

      Sie horchten verhaltenen Atems, ohne Bestimmteres zu ergründen. »Vielleicht Maschinenschaden.«

      »Mann über Bord?« So rieten sie hin und her, bis die Maschine wieder ansprang.

      »Lotse!« triumphierte Tilger.

      »Nein«, sagte Klein bestimmt.

      Wieder stieg und stürzte der Boden unter ihnen und mit ihnen. Schwere Brecher prallten gegen die Bordwand. Irgendwo rollte donnernd ein Balken vorwärts und rückwärts über Eisen. Da verursachte ein Rasseln neue Spannung. In die Finsternis der Höhle Schossen zwei Strahlen gebrochenen Taglichtes, ein feiner und ein stärkerer. Der feine brach seitlich zwischen den Mehlfässern herein, der stärkere fiel aus einem Spalt