man das denn, Tante Sofia? Lügen verbreiten über andere Leute?«
»Schwere Frage«, antwortete die Baronin. »Man darf es nicht, aber wenn man es tut, wird man meistens nicht einmal dafür bestraft. Das ist ungerecht, aber so sieht die Wirklichkeit leider aus.«
Eberhard Hagedorn hatte sich während dieser Diskussion diskret zurückgezogen. Im Stillen konnte er sich dem Wunsch der Baronin nur anschließen: Wenn er einen Weg gewusst hätte, diese schreckliche Gräfin daran zu hindern, ihre erfundenen Geschichten über andere Menschen zu verbreiten, er hätte diesen Weg ohne zu zögern beschritten.
*
Konstantin war froh, dass er sich auf seine Arbeit konzentrieren musste, denn sonst hätte er vermutlich unablässig über Bettina von Rabenfels und die Tatsache nachgedacht, dass sie offenbar keinen Wert darauf legte, ihn noch einmal zu treffen. Dabei hätte er während des Gesprächs mit ihr schwören können, dass sie ihn so anziehend fand wie er sie. Aber ganz offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.
Wann immer er eine Pause machte, kam sie ihm sofort in den Sinn. Während der Arbeit zwang er sich, jeden Gedanken an sie aus seinem Kopf zu verbannen, doch sobald seine Konzentration nachließ, tauchte als erstes die Frage auf: Wie konnte ich mich so irren? Und dann: Warum will sie sich nicht mehr mit mir treffen? Mag sie mich nicht oder gibt es andere Gründe für ihre ablehnende Haltung?
Er kam zu keinem Ergebnis. Da er aber verbissener denn je zuvor arbeitete, wurde er schneller fertig als erwartet. Bald wusste er, dass er von den vierzehn Tagen, die Helen ihm angeboten hatte, nicht mehr als zehn brauchen würde. Als er ihr das mitteilte, war sie hoch beglückt.
»Wunderbar, Tino! Bist du ganz sicher?«
»Ich bin ganz sicher. Übermorgen liegt das Manuskript auf deinem Schreibtisch, du hast mein Wort darauf.«
»Das ist heute anscheinend mein Glückstag! Zuerst überrascht mich Clemens mit einer wunderschönen Halskette – und jetzt sagst du mir, dass wir doch nicht so in Zeitnot geraten wie befürchtet.«
Nach diesem Gespräch überarbeitete Konstantin ein weiteres Kapitel, dann schaltete er den Computer aus.
Er würde am nächsten Tag fertig werden und war froh darüber. Bald kannte er den Text auswendig, so oft hatte er ihn gelesen.
Kurz entschlossen rief er Moritz an. Vielleicht konnten sie gemeinsam etwas essen gehen – doch Moritz war nicht zu Hause. »Mist!«, murmelte er vor sich hin. Er hätte seinem Freund gern von dem Erlebnis mit Bettina von Rabenfels erzählt. Bisher hatte er das nämlich noch nicht getan. Zwar redete niemand gern über seine Misserfolge, aber vielleicht hatte er ja einen Fehler begangen, und Moritz erkannte das sofort …
Es klingelte an seiner Wohnungstür. Als er öffnete, stand Moritz davor. »Ich habe gerade bei dir angerufen, um zu fragen, ob wir nicht zusammen was essen wollen«, sagte Konstantin.
Statt die indirekte Frage seines Freundes zu beantworten, platzte Moritz mit seiner Neuigkeit heraus: »Ich habe mich verliebt!«
»Ich auch«, antwortete Konstantin – zu seiner eigenen Überraschung. Aber kaum hatte er es ausgesprochen, als er auch schon erkannte, dass es die Wahrheit war. Ja, er hatte sich in Bettina von Rabenfels verliebt, und das war der Grund dafür, dass ihre Abfuhr ihm so zu schaffen machte.
»Tatsächlich?«, fragte Moritz verblüfft und auch ein wenig enttäuscht darüber, dass die Enthüllung seines großen Geheimnisses praktisch wirkungslos verpufft war.
»Ja, tatsächlich«, bestätigte Konstantin. »Aber davon reden wir später. Erzähl du zuerst: Wer ist die Glückliche?«
Gleich darauf fiel er aus allen Wolken, als er hörte, dass Moritz sich in die jüngere Schwester seiner Verlegerin verliebt hatte.
»In Lili?«, staunte er. »Das ist aber eine echte Überraschung. Kanntet ihr euch bisher denn noch nicht?«
»Nein – ich wusste zwar, dass sie existiert, weil du sie schon gelegentlich erwähnt hast, aber begegnet waren wir uns noch nie. Ich bin ziemlich durcheinander, kann ich dir sagen.«
Konstantin nickte. Er war auch durcheinander, aber leider aus anderen Gründen als Moritz.
»Und bei dir?«, erkundigte sich Moritz.
Er machte große Augen, als er erfuhr, dass Konstantin nach dem Vortrag neulich Frau Dr. Bettina von Rabenfels angesprochen hatte und mit ihr essen gegangen war.
»Du hättest mir ruhig sagen können, dass du das vorhattest«, beklagte er sich. »Ich habe mich schon gewundert, warum du es plötzlich so eilig hattest.«
»Ist aber leider schon wieder vorbei – ich wollte mich anschließend mit ihr verabreden, aber sie hat behauptet, dass sie keine Zeit hat und mich praktisch stehenlassen.« Konstantin lächelte schief. »Dabei dachte ich, sie wäre von mir auch ein bisschen beeindruckt gewesen, das war aber leider ein Irrtum.«
»Tut mir leid«, murmelte Moritz, doch trotz seines Mitgefühls konnte er nicht verhindern, dass er vor Glück förmlich leuchtete.
»Lass uns essen gehen«, schlug Konstantin vor, der nach kurzem Nachdenken zu der Erkenntnis gelangt war, dass es immer noch besser war, Moritz von seinem Glück reden zu hören, als allein zu Hause zu sitzen und an Bettina von Rabenfels zu denken.
Moritz war einverstanden, und so verließen sie wenig später das Haus.
*
Die Zwillinge eroberten Schloss Sternberg und alle, die dort lebten und arbeiteten, im Sturm. Wohin sie auch kamen, flogen ihnen die Herzen zu. Sie sahen nicht nur niedlich aus, sie hatten auch sonnige Gemüter, und niemand konnte Miriam oder Paul widerstehen, wenn sie mit schelmischem Lächeln die dunklen Köpfe schief legten und ihre ersten Zähnchen zeigten. Sie wickelten nicht nur Herrn Hagedorn um den Finger, sondern auch den strengen Stallmeister Robert Wenger und die Köchin Marie-Luise Falkner, die Pferdepfleger ebenso wie die Küchenmädchen. Alle bemühten sich um die beiden – und Bettina konnte sicher sein, dass Miriam und Paul nicht eine Sekunde ohne Aufsicht waren, wenn sie selbst sich anderen Dingen zuwandte.
»Unsere beiden waren nicht so pflegeleicht«, seufzte der Baron einen Tag nach Bettinas Ankunft. Er hatte Miriam auf dem Arm, die ihn begeistert ins Kinn kniff. »Die beiden schreien ja noch nicht einmal, Tina. Wie hast du das nur hingekriegt?«
»Mein Verdienst ist es nicht«, wehrte Bettina ab. »Sie sind einfach so!«
»Na, ein bisschen wirst du schon dazu beigetragen haben«, meinte Friedrich schmunzelnd, während er Miriam hoch über seinen Kopf schwenkte. Das kleine Mädchen quietschte vor Vergnügen.
Paul, der auf dem Boden herumkrabbelte, von mehreren aufmerksamen Augenpaaren begleitet, hob den Kopf, um sich nach seiner Schwester umzusehen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und plumpste zur Seite. Unverdrossen rollte er sich wieder herum und krabbelte weiter. Alle lachten.
»Das ist besser als Fernsehen«, stellte Anna fest. »Ich könnte den beiden den ganzen Tag zugucken.«
Friedrich übergab seiner Tochter die kleine Miriam. »Hier bitte, unterhalte sie ein bisschen. Ich muss leider noch einmal ins Büro – obwohl es bei euch viel schöner ist.«
»Bleib nicht zu lange, Fritz, bitte!«, rief die Baronin ihm nach. »Wir essen bald.«
»Eure Köchin ist eine Künstlerin«, seufzte Bettina. »Es würde mich nicht wundern, wenn ich ordentlich an Gewicht zulegte, so lange ich bei euch bin.«
»Ach was!«, entgegnete Sofia. »Du bewegst dich doch viel, Tina, da nimmst du auch nicht zu.«
Friedrich, der diesen Wortwechsel noch gehört hatte, zog lächelnd die Tür hinter sich zu. Im Büro erwartete ihn Volker Hagen mit mehreren Fragen, die dringend geklärt werden mussten. Sie besprachen alles, der Baron fällte die notwendigen Entscheidungen und wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als das Telefon klingelte. Es war Konstantin von Klawen.
»Störe ich, Fritz?«, fragte er.
Ȇberhaupt