Reise noch einmal zum gemeinsamen Abendessen verabredet.
»Ich bin mir nur nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist oder nicht.« Daniel Norden schnitt eine Grimasse und bat seine Gäste ins Esszimmer, wo schon eine festlich gedeckte Tafel auf sie wartete.
Die Haushälterin Lenni hatte das Ihre zu dem besonderen Ereignis beigetragen und ein wahres Seemannsmenü gezaubert.
»Feldsalat mit geräucherter Forelle, Dorade aus dem Ofen mit Zitronen-Kapern-Butter und als Nachtisch …«
»… Crème brulée von der Fischflosse«, fiel Felix ihr ins Wort und verzog angewidert das Gesicht. »Gibt’s auf einem Kreuzfahrtschiff etwa nur Fisch? Dann hätte ich mir das mit der Reise nochmal überlegt.« Er schickte der langjährigen Haushälterin einen verzweifelten Blick. »Darf ich dir meinen Platz abtreten?«
»Um Gottes willen!« Lennis Miene sprach Bände. »Ich setz doch keinen Fuß auf so ein schwankendes Ding. Am Ende stößt es noch mit einem Eisberg zusammen und geht mit Pauken und Trompeten unter. Wie die Titanic. Oder wir treffen Piraten und werden geentert. Nein, vielen Dank. Da bleib ich lieber hier. Die Art Abenteuer, die ich mit dieser Familie auf festem Boden erlebe, reicht mir vollkommen.« Mit diesen Worten machte sie kehrt und verschwand wieder in ihr Reich, die Küche, wo sie sich sicher wie nirgendwo anders auf der Welt fühlte.
»So schnell kann sich ein vermeintliches Glück in Unglück wandeln«, wandte sich Janni, jüngster Sohn der Familie, an seinen Bruder. Wie immer, wenn er einen gewichtigen Gedanken loswerden musste, schob er die Brille mit dem dunklen Rand zurück auf die Nase. »Aber keine Sorge. Die Kollision mit einem Eisberg müsst ihr nicht befürchten. Im Gegensatz zur Titanic reist ihr gen Süden. Das kann sich aber auch als Problem erweisen. Erst im März dieses Jahres wurde ein Deutscher auf einer ostkaribischen Insel Opfer von Piraten. Und du kannst mir glauben: Die machen keine Geiseln. Lenni tut also gut daran, dass sie lieber zu Hause bleiben will.« Nicht der Hauch eines Lächelns zuckte um seine Mundwinkel.
Felix war kein ängstlicher Typ. Doch während er zuhörte, waren seine Augen immer größer geworden.
»Das ist doch Seemannsgarn«, wollte er sich einreden. »Du willst mir nur Angst einjagen, weil du neidisch auf mich bist.«
Janni lächelte und schüttelte den Kopf.
»Eine Kreuzfahrt ist nichts für mich. Die Zeit lege ich lieber gewinnbringend an und informiere mich über die Süßwassererzeugung auf modernen Überseeschiffen durch Unterdruckverdampfung aus Meerwasser. Ein unglaublich spannendes Thema übrigens.«
Obwohl er seinen Bruder kannte, stand Felix der Mund offen vor Staunen. Aber nur kurz.
»Schön, dass sich wenigstens einer in dieser Familie mit was Sinnvollem beschäftigt. Da können wir ja beruhigt verreisen. Nicht wahr, Dad?«, wandte er sich an seinen Vater, der aber mit den Gedanken weit weg schien. Zumindest verriet das sein abwesender Blick. Felix drehte sich um.
»Wow!« Mehr konnte auch er nicht sagen.
Durch die offen stehende Tür sah er, was sein Vater und alle anderen auch sahen. Seine Mutter wandelte die Treppe hinunter. In dem cremefarbenen Shirt aus Seidenjersey und der weich fließenden, schwarzen Hose, zu der sie schwarze Plateausandalen trug, sah sie aus wie eine Göttin. Als Dési – sie folgte ihrer Mutter mit einigen Schritten Abstand – die Blicke sämtlicher anwesenden Männer sah, wusste sie, dass sie die Wette verloren hatte.
Sogar Janni vergaß für einen Moment seine Unterdruckverdampfung.
»Ich muss mich korrigieren«, erklärte er. Durch die Brillengläser wirkten seine Augen noch größer als die seiner Angehörigen. »In Mums Fall werden die Piraten eine Ausnahme machen und doch eine Geisel nehmen.«
Danny, der als erster die Sprache wiederfand, stupste seinen Vater an.
»Du weißt, dass du mich jederzeit erreichen kannst, wenn es Probleme gibt«, erinnerte er ihn. »Das Schiff ist mit Internet ausgestattet. Wenn du mich anrufst, schicke ich sofort einen Hubschrauber los.«
Lächelnd legte Daniel den Arm um die Taille seiner Frau und sah Danny an.
»Vielen Dank für den Hinweis. Aber das wird nicht nötig sein«, versicherte er. »Ich hab gelesen, dass man an Bord Kampfsportarten lernen kann. Jeder Fremde, der sich deiner Mutter auf fünf Meter nähert, bekommt es mit mir zu tun.« Spaßeshalber hielt er die geballte Faust seiner rechten Hand in die Höhe.
Danny betrachtete sie skeptisch.
»Na, hoffentlich haben sie einen guten Arzt an Bord«, bemerkte er trocken.
Im allgemeinen Gelächter blieb es offen, ob er um die Gesundheit seines Vaters oder eher um die seiner Gegner fürchtete.
*
»Das alles hier wird mir fehlen.« Rebecca Salomon ließ die Blicke über die Menschen gleiten, die sich vor dem Flughafen von Addis Abeba drängten. Bereits beim Betreten der Abflughalle wurden die Fluggäste kontrolliert, sodass sich eine lange Schlange gebildet hatte. Überall wurde geredet, diskutiert, gelacht oder gestritten. »Ich hab mich hier immer heimisch gefühlt. Und jetzt kann ich mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben weitergehen soll.«
Ayana, die sie zum Flughafen begleitet hatte, legte tröstend die Hand auf ihre Schulter.
»Das Wichtigste ist, dass die Ärzte endlich herausfinden, was dir fehlt.« Ihr erstes Interesse galt der Gesundheit ihrer Freundin, die ihr wie eine Schwester ans Herz gewachsen war.
Becky sah sie an. Doch ihr Blick ging durch sie hindurch.
»Dr. Johansson hat den Kollegen Norden leider nicht erreicht. Er war gestern schon weg, und sie hatte nur den Anrufbeantworter dran.«
»Das ist doch schon mal der Beweis dafür, dass es die Praxis noch gibt.« Ein Mann wollte sich an der Schlange vorbei direkt in die Abflughalle drängeln. Mit einer ungehaltenen Bemerkung verwies Ayana ihn auf seinen Platz. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu. »Und wenn du ihn in so guter Erinnerung hast, wird er sicher versuchen, dir zu helfen.«
»Er ist der beste Arzt, der mir je begegnet ist«, gestand die Sozialpädagogin. »Nie zuvor hat sich jemand so intensiv um mich gekümmert wie er.«
»Auch nicht Dr. Johansson?«, fragte Aynana augenzwinkernd.
Wie immer, wenn Rebecca nervös war, zupfte sie mit den Zähnen an der Unterlippe.
»Das kann ich nicht sagen. Dr. Norden wusste Dinge von mir, die ich niemals einem Menschen anvertraut hätte. Zu Sigrid Johansson habe ich ein anderes Verhältnis.«
Wie bei fast jedem ernsten Gespräch, das die beiden Frauen führten, kam die Sprache auf Beckys geheimnisvolle Vergangenheit.
»Was waren das für Dinge?«, erkundigte sich Ayana hoffnungsvoll. Vielleicht gelang es ihr ja jetzt, so kurz vor der Abreise, das Rätsel zu lösen.
Einen Moment lang schien es, als ob Rebecca der weichen Abschiedsstimmung nachgeben wollte. Doch dann wurde sie in den Rücken gerempelt und drehte sich um, um den Verursacher zu schimpfen. Als sie sich wieder ihrer Freundin zuwandte, war der schwache Moment vergangen.
»Es ging um eine psychische Geschichte«, erwiderte sie nur knapp, als auch schon die Reihe an ihr war.
Es blieb nur noch Zeit für eine kurze Umarmung.
Mit einem Gesicht voller Fragen blieb Ayana zurück, während Rebecca durch die Sicherheitsschleuse ging und nach einem weiteren Winken gänzlich aus ihrem Blickfeld verschwand.
*
So sehr sich Rebecca Salomon darauf gefreut hatte, den unbeantworteten Fragen ihrer Freundin zu entkommen, so sehr war sie plötzlich auf sich und ihre Vergangenheit geworfen. Um die Erinnerungen zurückzudrängen, setzte sie sich am Gate auf einen freien Platz und zog ein Buch aus der Tasche. Doch sie konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren. Nach einer Weile steckte sie es entnervt wieder weg und tauschte es gegen Kopfhörer. Musik war schon immer ein probates Mittel gewesen, um sich abzulenken. Doch auch dieser Versuch scheiterte kläglich.