Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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lassen; und wer in England einmal gesehen hat, wie strahlend der Goldglanz ist, den dort die erstarkende Sonne aus dem trüben Knäuel des Nebels spinnt, der weiß, wie sehr ein Dichter seine Nation beseligen mußte, der ihr künstlerisch diese Sekunde der Erlösung aus dem bleiernen Hindämmern gegeben hat. Dickens ist dieser goldene Reif um den englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten Dinge und simplen Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine Helden, seine Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte gesucht, an denen die anderen Dichter achtlos vorbeigingen. Die suchten ihre Helden unter den Kronleuchtern der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den Zauberwald der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen, Ungewöhnlichen und Außerordentlichen. Ihnen war der Bürger die Substanz gewordene irdische Schwerkraft, und sie wollten nur feurige, kostbare, in Ekstasen aufstrebende Seelen, den lyrischen, den heroischen Menschen. Dickens schämte sich nicht, den ganz einfachen Tagwerker zum Helden zu machen. Er war ein Selfmademan; er kam von unten und bewahrte diesem Milieu eine rührende Pietät. Er hatte einen sehr merkwürdigen Enthusiasmus für das Banale, eine Begeisterung für ganz wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des Lebens. Seine Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel, das jeder für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander von Seltsamkeiten und schnurrigen Nichtigkeiten, die jahrzehntelang vergeblich auf den Liebhaber gewartet hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen, verstaubten Dinge, putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte sie in die Sonne seiner Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich an zu funkeln mit einem unerhörten Glanz. So nahm er die vielen kleinen verachteten Gefühle aus der Brust einfacher Menschen, horchte sie ab, fügte ihr Räderwerk zusammen, bis sie wieder lebendig tickten. Plötzlich begannen sie da wie kleine Spieluhren zu surren, zu schnurren und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie, die lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter aus Legendenland und die Kanzonen der Lady vom See. Die ganze bürgerliche Welt hat Dickens so aus dem Aschenhaufen der Vergessenheit aufgestöbert und wieder blank zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder eine lebendige Welt. Ihre Torheiten und Beschränktheiten hat er durch Nachsicht begreiflich, ihre Schönheiten durch Liebe sinnfällig gemacht, ihren Aberglauben verwandelt in eine neue und sehr dichterische Mythologie. Das Zirpen des Heimchens am Herd ist Musik geworden in seiner Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit menschlichen Zungen, der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung dem religiösen Gefühl. Aus den kleinsten Festen hat er einen tieferen Sinn geholt; er hat allen diesen schlichten Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens entdecken geholfen, ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das Liebste war, ihr »home«, das enge Zimmer, wo der Kamin mit roten Flammen prasselt und das dürre Holz zerknackt, wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die wunschlosen Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen, den wilden Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen wollte er alle die lehren, die in den Alltag gebannt waren. Tausenden und Millionen hat er gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut. Helfen wollte er den Armen und den Kindern. Was über diesen Mittelstand des Lebens materiell oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er liebte nur das Gewöhnliche, das Durchschnittliche von ganzem Herzen. Den Reichen und den Aristokraten, den Begünstigten des Lebens war er gram. Die sind fast immer Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten Porträts, fast immer Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft hatte er als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalea, Briefe gebracht, die Pfändungen gesehen, zu sehr die liebe Not des Geldes gekannt; jahraus, jahrein war er in Hungerford Stairs ganz oben in einem kleinen, schmutzigen, sonnenlosen Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse in Tiegel eingestrichen und mit Fäden hunderte und hunderte täglich umwickelt, bis ihm die kleinen Kinderhände brannten und die Tränen der Zurücksetzung aus den Augen schössen. Zu sehr hatte er Hunger und Entbehrung gekannt an den kalten Nebelmorgen der Londoner Straßen. Keiner hatte ihm damals geholfen, die Karossen waren vorübergefahren an dem frierenden Knaben, die Reiter vorbeigetrabt, die Tore hatten sich nicht aufgetan. Nur von den kleinen Leuten hatte er Gutes erfahren: nur ihnen wollte er darum die Gabe erwidern. Seine Dichtung ist eminent demokratisch – nicht sozialistisch, dazu fehlt ihm der Sinn für das Radikale –, Liebe und Mitleid allein geben ihr pathetisches Feuer. In der bürgerlichen Welt – in der mittleren Sphäre zwischen Armenhaus und Rente – ist er am liebsten geblieben; nur bei diesen schlichten Menschen hat er sich wohlgefühlt. Er malt ihre Stuben mit Behaglichkeit und Breite aus, als wollte er selbst darin wohnen, webt ihnen bunte und immer mit sonnigem Feuer überflogene Schicksale, träumt ihre bescheidenen Träume; er ist ihr Anwalt, ihr Prediger, ihr Liebling, die helle, ewig warme Sonne ihrer schlichten, grautönigen Welt.

      Aber wie reich ist sie durch ihn geworden, diese bescheidene Wirklichkeit der kleinen Existenzen! Das ganze bürgerliche Beisammensein mit seinem Hausrat, dem Kunterbunt der Berufe, dem unübersehbaren Gemisch der Gefühle ist noch einmal Kosmos geworden, ein All mit Sternen und Göttern in seinen Büchern. Aus dem flachen, stagnierenden, kaum wellenden Spiegel der kleinen Existenzen hat hier ein scharfer Blick Schätze erspäht und sie mit dem feinmaschigsten Netz ans Licht gehoben. Aus dem Gewühl hat er Menschen gefangen, oh, wie viele Menschen, Hunderte von Gestalten, genug, eine kleine Stadt zu bevölkern. Unvergeßliche sind unter ihnen, Gestalten, die ewig sind in der Literatur und schon mit ihrer Existenz hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes, Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood, sie alle, deren Namen in uns lächelnde Erinnerung zauberisch entfachen. Wie reich sind diese Romane! Die Episoden des David Copperfield genügten für sich allein, das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten zu versorgen; Dickens’ Bücher sind eben wirkliche Romane im Sinn der Fülle und unablässigen Bewegtheit, nicht wie unsere deutschen fast alle nur ins Breite gezerrte psychologische Novellen. Es gibt wenig tote Punkte in ihnen, wenig leere sandige Strecken, sie haben Ebbe und Flut von Geschehnissen, und wirklich, wie ein Meer sind sie unergründlich und unübersehbar. Kaum kann man das heitere und wilde Durcheinander der wimmelnden Menschen überschauen; sie drängen herauf an die Bühne des Herzens, stoßen einer wieder den andern hinab, wirbeln vorbei. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern, befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste Verwicklungen treiben in katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder, alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt die Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit. Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser Romane sind eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle; aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten, in den Felsen der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.

      Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär.