Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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konnte nur reich werden durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig gemacht durch seinen Haß, Dostojewski durch seine Heilandsliebe. Und auch Dickens, der Künstler, erlöst diese Menschen von ihrer lastenden Erdschwere: durch seinen Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche Welt nicht mit objektiver Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen Hymnus der braven Leute, der alleinseligmachenden Tüchtigkeit und Nüchternheit an, sondern er zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch lustig zu, er macht sie wie Gottfried Keller und Wilhelm Raabe ein ganz klein wenig lächerlich in ihren liliputanischen Sorgen. Aber lächerlich in einem freundlichen, gutmütigen Sinne, so daß man sie für alle Schnurren und Skurrilitäten nur noch lieber hat. Wie ein Sonnenblick liegt der Humor über seinen Büchern, macht ihre bescheidene Landschaft plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von tausend entzückenden Wundern; an dieser guten wärmenden Flamme wird alles lebendiger und wahrscheinlicher, selbst die falschen Tränen flimmern wie Diamanten, die kleinen Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand. Der Humor Dickens’ hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten. Wie Ariel schwebt er geisternd durch die Luft seiner Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in einen Tanzwirbel, eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig ist er. Selbst aus dem Schacht der finstersten Verwirrungen funkelt er auf wie ein Bergmannslicht, er löst die überstraffen Spannungen, er mildert das allzu Sentimentale durch den Unterton der Ironie, das Übertriebene durch seinen Schatten, das Groteske, er ist das Versöhnende, das Ausgleichende, das Unvergängliche in seinem Werk. Er ist – wie alles bei Dickens – natürlich englisch, ein echtenglischer Humor. Auch ihm fehlt es an Sinnlichkeit, er vergißt sich nicht, betrinkt sich nicht an seiner eigenen Laune und wird nie ausschweifend. Er bleibt in seinem Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst sich nicht wie Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei Cervantes vor tollem Entzücken oder springt kopfüber ins Unmögliche wie der amerikanische. Er bleibt immer aufrecht und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer nur mit dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine Heiterkeit verbrennt sich nicht selbst, sie funkelt nur und zersplittert ihr Licht in die Adern der Menschen hinein, flackert mit tausend kleinen Flammen, geistert und irrlichtert neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in den Wirklichkeiten. Auch sein Humor ist – denn es ist das Schicksal Dickens’, immer eine Mitte darzustellen – ein Ausgleich zwischen der Trunkenheit des Gefühls, der wilden Laune und der kaltlächelnden Ironie. Sein Humor ist unvergleichbar dem der anderen großen Engländer. Er hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes, nichts von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und Hände. Er will nicht moralisch sein und nicht satirisch, nicht unter der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst verstecken. Er will überhaupt nicht und nichts. Er ist. Seine Existenz ist absichtslos und selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener merkwürdigen Augenstellung Dickens’, verschnörkelt und übertreibt dort die Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. Alles tritt in diesen Kreis von Licht, sie leuchten wie von innen heraus; selbst die Gauner und Schurken haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze Welt scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie betrachtet. Alles glänzt und wirbelt, die Sonnensehnsucht eines nebligen Landes scheint für immer erlöst. Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze quirlen ineinander, springen weg, spielen Verstecken mit ihrem Sinn, werfen sich einer dem anderen Fragen zu, necken sich, führen sich irre, eine Launigkeit beflügelt sie zum Tanz. Unerschütterlich ist dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er ließ sich nicht verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben. Sein Humor ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich scharfen Auge und verlosch erst mit seinem Licht. Nichts Irdisches vermochte ihm etwas anzuhaben, und auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir Menschen nicht denken, die Novellen wie »Das Heimchen am Herd« nicht lieben würden, die der Heiterkeit wehren könnten bei manchen Episoden dieser Bücher. Die seelischen Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die literarischen. Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird, in den Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille ruht und nur das Gefühl des Lebens sanft seine Wellen in einem rührt, wo man sich nach nichts so sehnt als nach irgendeiner arglosen melodischen Erregung des Herzens, wird man nach diesen einzigen Büchern greifen, in England und überall in der Welt.

      Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen, allzu irdischen Werke: es hat Sonne in sich, es strahlt und wärmt. Man soll die großen Kunstwerke nicht allein nach ihrer Intensität fragen, nicht nur nach dem Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach ihrer Extensität, der Wirkung auf die Mengen. Und von Dickens wird man wie von keinem in unserem Jahrhundert sagen können, er habe die Freudigkeit der Welt gemehrt. Millionen Augen haben bei seinen Büchern in Tränen gefunkelt; Tausenden, denen das Lachen verblüht oder verschüttet war, hat er es neu in die Brust gepflanzt: weit über das Literarische hinaus ging seine Wirkung. Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen, als sie von den Brüdern Chereby lasen; Hartherzige wurden gerührt; die Kinder bekamen – es ist verbürgt –, als »Oliver Twist« erschien, mehr Almosen auf den Straßen; die Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte die Privatschulen. Das Mitleid und Wohlwollen in England ist stärker geworden durch Dickens, das Schicksal von vielen und vielen Armen und Unglücklichen gelindert. Ich weiß: solche außerordentliche Wirkungen haben nichts zu tun mit der ästhetischen Wertung eines Kunstwerkes. Aber sie sind wichtig, weil sie zeigen, daß jedes ganz große Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja jeder schaffende Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in der realen Welt Wandlungen hervorbringt. Wandlungen im Wesentlichen, im Sichtbaren und dann in der Temperatur des Gefühlsempfindens. Dickens hat – im Gegensatz zu den Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und Zuspruch bitten – die Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt, ihren Blutkreislauf befördert. Die Welt ist heller geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen zu schreiben. Er hat seiner Zeit die Freude gerettet und den späteren Generationen den Frohsinn jenes »merry old England«, des England zwischen den Napoleonkriegen und dem Imperialismus. Nach vielen Jahren wird man noch zurückschauen nach dieser dann schon altväterischen Welt mit ihren seltsamen, verlorenen Berufen, die längst im Mörser des Industrialismus zerpulvert sein werden, wird sich vielleicht hineinsehnen in dies Leben, das arglos war, voll von einfachen, stillen Heiterkeiten. Dickens hat dichterisch die Idylle Englands geschaffen – das ist sein Werk. Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering gegenüber dem Gewaltigen: auch die Idylle ist ein Ewiges, eine uralte Wiederkehr. Das Georgikon oder Bukolikon, das Gedicht des fliehenden, vom Schauer des Begehrens ausruhenden Menschen ist hier erneut, so wie es immer im Umschwung der Generationen wieder sich erneuern wird. Es kommt, um wieder zu vergehen, die Atempause zwischen den Erregungen, das Kraftgewinnen vor oder nach der Anstrengung, die Sekunde der Zufriedenheit im rastlos hämmernden Herzen. Andere schaffen die Gewalt, andere die Stille. Charles Dickens hat einen Augenblick der Stille in der Welt zum Gedicht gefügt. Heute ist das Leben wieder lauter, die Maschinen dröhnen, die Zeit saust in rascherem Umschwung. Aber die Idylle ist unsterblich, weil sie Lebensfreude ist; sie kehrt wieder wie der blaue Himmel hinter den Wettern, die ewige Heiterkeit des Lebens nach allen Krisen und Erschütterungen der Seele. Und so wird auch Dickens immer wieder aus seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn Menschen der Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den tragischen Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leiseren Dingen die geisterhafte Musik des Dichterischen werden vernehmen wollen.

      Dostojewski

       Inhaltsverzeichnis

       Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.

      Goethe, Westöstlicher Divan

      Einklang

       Inhaltsverzeichnis

      Es ist schwer und verantwortungsvoll,