Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen, und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man schauert nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß, der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit weißen Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit, werden ihn schon unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen. Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik. Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille zum Trotz, Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne. Zu der tränenlosen, wortlosen, letzten Gewalt des verzweifelten Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte Rührung – etwa der Tod Doras im »Copperfield« – ist das äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag. Holt er zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet das (oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des englischen Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen. Das Finale muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Diese echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens’ grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. Denn die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit des freien Künstlers mehr, sondern die eines anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle, statt sie frei wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac ihr elementares Überschäumen, sondern lenkt sie durch Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend, der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen sie unsichtbar mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten Roman statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als Dickens starb, wußte der Bischof von Winchester an seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so, wie man es Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und protzt es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden, muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn er einmal bei einem Raufhandel seinem Gegenüber die Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller, der Libertin. Wo steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er trinkt vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das ist alles. Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet höchst anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind bei Dickens nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz allen bösen Instinkten blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige Hypokrisie, die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet Dickens den spürenden Blick von den Wirklichkeiten. Das England der Königin Viktoria hat Dickens verhindert, den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen in seine eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum Anwalt seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne Schwinge besessen, die ihn stolz über die dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen und fast unirdischen Humor.

      Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge verschneidet die Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt; die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier, wo Dickens frei, unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte, hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten Episoden der Frühzeit. Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können, wie sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft, dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren hinrettend bis ins Verscheiden. Das ist rührend in einem Sinne, der über alle Sentimentalität hinausreicht zum echtesten, lebendigsten Menschengefühl. Da ist Traddles, der fette Junge in seinen geblähten Pumphosen, der den Schmerz über die erhaltenen Prügel im Zeichnen von Skeletten vergißt, Kit, der Treueste der Treuen, der kleine Nickleby und dann dieser eine, der immer wiederkehrt, dieser hübsche, »sehr kleine und nicht eben zu freundlich behandelte Junge«, der niemand anderer ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine eigene Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter unsterblich gemacht hat. Immer und immer wieder hat er von diesem gedemütigten, verlassenen, verschreckten, träumerischen Knaben erzählt, den die Eltern verwaisen ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah geworden, seine sonore Stimme voll und tönend wie Glockenklang. Unvergeßlich ist dieser Kinderreigen in Dickens’ Romanen. Hier durchdringt sich Lachen und Weinen, Erhabenes und Lächerliches zu einem einzigen Regenbogenglanz; das Sentimentale und das Sublime, das Tragische und das Komische, Wahrheit und Dichtung versöhnen sich in ein Neues und Nochniedagewesenes. Hier überwindet er das Englische, das Irdische, hier ist Dickens ohne Einschränkung groß und unvergleichlich. Wollte man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich sein. Um der Kinder willen hat er die sogar geliebt, die schon nicht mehr kindlich, sondern kindisch waren, die Schwachsinnigen und Geistesgestörten. In allen seinen Romanen ist einer dieser sanften Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist rührend, zu sehen, wie er diese Menschen schildert. Er faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel Güte um ihr Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil sie ewig im Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn die Kindheit ist das Paradies in Dickens’ Werken. Wenn ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren, nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen, die reine Wahrheit mit der englischen Lüge. Und er selbst scheint dieses Gefühl im Innersten zu teilen. Denn nur ungern gibt er seine Lieblingshelden an das Leben. Er begleitet sie nie bis ins Alter hinein, wo sie banal werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt Abschied von ihnen, wenn er sie emporgeführt hat bis an die Kirchentür der Ehe, durch alle Fährnisse in den spiegelglatten Hafen der bequemen Existenz. Und das eine Kind, das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine Nell, in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure Frühverstorbene verewigt hatte, sie ließ er gar nicht in die rauhe Welt der Enttäuschungen, die Welt der Lüge. Sie behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß ihr vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos übergleiten von der Helle der Frühzeit in die Dunkelheit des Todes. Sie war ihm zu lieb für die wirkliche Welt.

      Denn diese Welt ist bei Dickens,