Stefan Zweig

Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten


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er eine rhythmische Kraft, eine Glut der Menschenliebe auf manchen Blättern, die den schönsten Gedichten aller Zeiten sich ebenbürtig erweisen. Die zarte seelische Schüchternheit, die ihn oft im Gespräche hemmt, verwandelt sich in diesen Blättern zu aufgetanem Bekenntnis: immer spricht hier der innerste freie Mensch zu den Menschen, Güte erreicht in ihnen das Pathos einer Leidenschaft. Und was hier flüchtig verstreut ward an Fremde und Feme, ist das Eigenste seines Wesens; wie sein Colas Breugnon kann er sagen: »Dies ist mein schönstes Werk: die Seelen, die ich gestaltet habe.«

      Der Berater

       Inhaltsverzeichnis

      In diesen Jahren kamen oft Menschen zu Rolland, meist junge Menschen, und erbaten seinen Rat in Fragen des Gewissens. Sie fragten, ob sie, da ihre Überzeugung gegen den Krieg sei, den Dienst verweigern sollten im Sinne Tolstois und der »conscientious objectors«, oder im biblischen Sinn das Böse dulden, ob sie öffentlich gegen manches Unrecht ihres Vaterlandes Stellung nehmen oder schweigen sollten. Andere begehrten geistige Entscheidungen in ihrer Gewissensnot: alle aber meinten sie, daß hier ein Mann eine Maxime, eine feste Norm des Verhaltens im Kriege besitze, ein moralisches Wunderelixier, das er den andern abtreten würde.

      Rolland hatte auf alle diese Fragen immer nur eine Antwort: Handelt nach eurem Gewissen. Sucht eure eigene Wahrheit und verwirklicht sie. Es gibt keine fertige Wahrheit, keine starre Formel, die einer dem andern weitergeben kann: Wahrheit ist etwas, was jeder nur aus sich nach seinem Ebenbilde zu schaffen vermag und immer nur für sich allein. Es gibt keine moralische Verhaltungsmaßregel als diese letzte, sich zu erkennen und dieser eigenen Notwendigkeit – sei es auch gegen die ganze Welt – treu zu sein. Der die Waffe wegwirft und sich ins Gefängnis setzen läßt, hat recht, wenn er aus seinem Wesen heraus, nicht aus Eitelkeit oder Nachahmung, so handelt. Und der sie zum Schein nimmt und den Staat dann betrügt, der, um die Idee zu propagieren, seine Freiheit rettet, hat ebenso recht, wenn er bewußt aus seinem Wesen wirkt. Rolland hat jedem recht gegeben, der seinen eigenen Glauben glaubte, ebenso dem Patrioten, der für sein Vaterland sterben wollte, wie dem Anarchisten, der sich frei machte von jedem staatlichen Band: er hat keine andere Maxime als die des Glaubens an den eigenen Glauben. Unwahr, falsch handelt in seinem Sinne nur der, der sich von einer fremden Idee überwältigen läßt und vom Rausch der Masse hingerissen wider seine Natur tätig in Erscheinung tritt.

      Es gibt nur eine Wahrheit, so sagt er allen, jene Wahrheit, die ein Mensch in sich als seine persönliche erkennt: außerhalb dieser Wahrheit ist jede andere Betrug an sich selbst. Und gerade dieser scheinbare Egoismus dient der Menschheit. »Wer nützlich für die andern sein will, muß vor allem frei bleiben. Selbst die Liebe zählt nicht, wenn sie die eines Sklaven ist.« Tod fürs Vaterland ist wertlos, wenn der sich Opfernde nicht an das Vaterland glaubt wie an einen Gott, Flucht vor dem Dienst eine Feigheit, wenn man nicht den Mut hat, sich als Vaterlandslosen zu bekennen. Es gibt keine wahren Ideen als die von innen erlebten, es gibt keine wertvollen Taten als die aus voller Verantwortung des Denkens gestalteten. Wer der Menschheit dienen will, darf nicht fremden Argumenten dienen: nichts zählt als moralischer Akt, was aus Nachahmung oder aus Zureden eines andern stammt, oder – wie in dieser Zeit fast alles – aus der Hypnose eines Massenwahns. »Die erste Pflicht ist, daß man sein eigenes Ich ist und bleibt bis zur Aufopferung und Hingabe seiner selbst.«

      Freilich, Rolland verkennt nicht die Schwierigkeit, die Seltenheit solcher freien Taten und zitiert Emersons Wort: »Nothing is more rare in any man, than an act of his own«, »Nichts ist seltener in jedem Menschen als eine Tat aus sich selbst heraus.« Aber war nicht gerade das unfreie, unwahre Denken der Menschenmassen, die Trägheit ihres Gewissens alles Unheils Anbeginn? Hätte wahrhaft ein Bruderkrieg in Europa ausbrechen können, wenn jeder Bürger, jeder Bauer, jeder Künstler sein innerstes Herz befragt hätte, ob die Minen Marokkos und die Sümpfe Albaniens ein Wert für ihn seien, ob er tatsächlich den Bruder in England oder in Italien so verabscheue und hasse, wie es ihn die Zeitungen und gewerbsmäßigen Politiker glauben ließen? Nur die Herdennatur, das Nachsprechen fremder Argumente, die blinde Begeisterung für niemals wirklich gefühlte Gefühle konnten eine solche Katastrophe möglich machen: und nur die Freiheit möglichst vieler Menschen kann in Zukunft die Menschheit vor solcher Tragödie erretten, nur die Nichtsolidarität der Gewissen. Denn was jeder für sich als wahr und gut erkennt, ist wahr und gut für die Menschheit. »Freie Seelen, starke Charaktere, – das tut der Welt heute am meisten not, die zum Massenleben auf allen möglichen ausgetretenen Bahnen zurückkehrt: leichenhafte Unterwerfung unter die Kirche, intoleranter Traditionalismus der Vaterländer, despotischer Einheitswahn des Sozialismus… Die Menschheit hat Menschen nötig; die zeigen, daß gerade die, die sie lieben, ihr Kampf ansagen, wenn es nötig ist.«

      So lehnt Rolland ab, andern Menschen Autorität zu sein: er fordert von jedem, daß er einzig sein Gewissen als Autorität anerkenne. Wahrheit kann nicht erlernt, sie muß erlebt sein. Wer aber klar denkt und aus dieser Klarheit frei handelt, schafft Überzeugung, nicht durch Worte, sondern durch sein Wesen. Und nur dadurch, daß Rolland am lichten Tage, auf der Höhe seiner Einsamkeit zeigte, wie ein Mensch durch Treue für das einmal für wahr Erkannte eine Idee für alle Zeiten lebendig macht, hat er einer ganzen Generation geholfen. Sein wahrer Rat war nicht das Wort, sondern die Tat, die Reinheit und Sittlichkeit seiner vorbildlichen Existenz.

      Einsamkeit

       Inhaltsverzeichnis

      So ist dieses Leben mit der ganzen Welt verbunden und tausendfältig wirksam, Wärme ausstrahlend und verbreitend: aber wie einsam sind doch im Letzten diese fünf Jahre des freiwilligen Exils! In einem kleinen Hotelzimmer in Villeneuve am Genfersee wohnt Rolland in tragischer Absonderung: der schmale Raum ist irgendwie jenem in Paris ähnlich geworden, auch hier Bücher, Broschüren übereinandergehäuft, auch hier der kleine schlichte, hölzerne Tisch, auch hier ein kleines Pianino, an dem er in Tönen von der Arbeit ruht. Und an diesem Arbeitstisch vergeht sein Tag, oft auch die Nacht, selten ist ein Spaziergang, selten ein Besuch, denn seine Freunde sind von ihm abgeschlossen, selbst seine greisen Eltern, die geliebte Schwester, können nur einmal im Jahr über die verschlossene Grenze. Und das Furchtbarste dieser Einsamkeit: sie ist Einsamkeit im gläsernen Haus. Von allen Seiten wird der »große Heimatlose« bespäht und belauscht, »agents provocateurs« suchen ihn als Revolutionären und Gesinnungsgenossen auf. Jeder Brief wird gelesen, ehe er in seine Hände kommt, jedes Telephongespräch gemeldet, jeder Besuch überwacht: ein Gefangener unsichtbarer Mächte, wohnt Romain Rolland im gläsernen Kerker.

      Wird man es heute noch glauben: in den letzten zwei Jahren des Krieges hat Rolland, auf dessen Wort eine Welt wartet, keine Zeitung, um mehr darin zu veröffentlichen als einige gelegentliche Revuen, keinen Verlag für seine Bücher. Die Heimat verleugnet ihn, er ist der »Fuoruscito« des Mittelalters, der aus den Mauern Verbannte, selbst der Schweiz – je radikaler sich seine geistige Unabhängigkeit bekundet – nicht mehr recht genehm: eine geheimnisvolle Acht scheint über ihm zu schweben. Allmählich weichen die lauten Angriffe einer neuen gefährlicheren Form der Gehässigkeit: ein finsteres Schweigen steht um seinen Namen, seine Werke. Immer mehr der alten Gefährten haben sich zurückgezogen, manche der neuen Freundschaften, besonders mit den Jüngeren, die ganz Politiker aus geistigen Naturen geworden sind, lockern sich: es wird stiller und stiller, je lauter draußen die Welt dröhnt. Keine Frau steht ihm helfend zur Seite, selbst seine besten Genossen, die Bücher, sind ihm unerreichbar ferne, denn er weiß: eine Stunde nur in Frankreich, und die Freiheit seines Wortes wäre dahin. Die Heimat ist eine Mauer, das Asyl ein gläsernes Haus! Und so wohnt er, der Heimatloseste der Heimatlosen, ganz »in der Luft«, wie sein geliebter Beethoven sagte, ganz in den Ideen, im unsichtbaren Europa, allem verbunden und wie keiner allein. Und nichts zeigt größer die Kraft seiner lebendigen Güte, als daß er statt verbittert durch die Erfahrungen, nur gläubiger in dieser schwersten Prüfung geworden ist. Denn gerade die tiefste Einsamkeit unter den Menschen ist die wahre Gemeinsamkeit mit der Menschheit.

      Das