und »sich umzustellen« – wie man damals sagte. Trotzdem hatten sie in der Branche nur eine Stimme, aber kein Wort, was verstanden sie vom Geschäft, vom Publikum, von Amerika?
Statistinnen opferten ihre Jungfernschaft für das vage Versprechen eines Hilfsregisseurs dritter Klasse, aus ihnen eine »Diva« zu machen. Neben den weißen Himmelbetten der Backfische bürgerlicher Häuser hingen die Ansichtskartenporträts der Lieblinge, eigenhändig von ihnen unterschrieben am Tage einer Premiere. Um die Schönheiten der Welt authentisch in spannende Begebenheiten zu flechten, machten Filmkarawanen weite Reisen, zu Maharadschas, Geishas, Toreros und Fakiren. Aktiengesellschaften fielen in Trümmer, und neue waren auferstanden. Direktoren sanken zu Statisten, und Statisten stiegen zu Stars.
Es war eine Welt für schlaue Menschen, es war eine Welt für Erna. Das war nicht mehr das Provinztheater mit den belesenen Sekretären, mit den empfindlichen ungebildeten Regisseuren, den bedächtigen und furchtsamen und bedürftigen Direktoren, da war nicht mehr die ewige Furcht vor dem »Schließen« – sondern im Gegenteil: die ewige festliche Aufregung des Eröffnens. Beim Theater war es ein besonderes Glück, wenn der Regisseur etwas konnte und noch nicht in Berlin war, wenn er sie von Herzen liebte und noch nicht mit ihr geschlafen hatte und wenn er, nach drei Liebesstunden, immer noch überzeugt war, daß sie »Zukunft« habe. Beim Theater, das zu sterben anfing, nutzte ihr keine Klugheit. Hier gab es keine Taktik, alle Kraft war verschwendet, jede Umarmung, jedes Kokettieren mit dem Theateragenten, jedes falsche Schmeichelwort, das man dem Direktor gab, jede feine Intrige, die man gegen eine Kollegin spann, jede hervorragende Szene, die man »hinlegte«, jeder Blumenstrauß, den man sich schicken ließ. Beim Film dagegen war alles neu, es roch nach Lack, es gab noch keine Tradition im »Ausstechen«, »Hereinlegen«, »Zerspringenlassen«, »Dingedrehn«, »Chosendeichseln« – alle Traditionen waren der Theaterwelt entlehnt und noch nicht genügend der Branche angepaßt. Zwar galt hier ein Wort noch weniger, eine Verabredung war ein Witz, eine Unterschrift ein »Wennschon«, ein Versprechen ein »Hereinfall« und ein Vertrag ein »Dreh«. Aber der Argwohn weckte Respekt, Schlauheit Achtung, Beziehungen erregten Furcht, und in einem ewigen Wechsel sich zu halten war leichter als in einem ständigen langsamen und sichern Sterben. Wenn man das Leben so genau und bitter sah wie Erna, konnte man beim Film leichter eine »Position« erringen als beim Theater.
Der kleinbürgerlichen Primitivität der Branche-Männer galt es zu imponieren: Durch Schönheit? – Sie hatten einen merkwürdigen Geschmack. Durch gespielten Adel der Seele? – Sie wußten nicht, was es ist. Durch einen vornehmen Ton? – Sie überhörten ihn im Lärm, den sie selbst erzeugten. Durch kuriose Allüren? – Sie ahmten sie nach. Durch ein Verhältnis mit einer »Kapazität«? – Das gab es schon. Durch Ausschweifung? – Das war zu leicht verständlich. Durch Talent? – Das hatte jede. Es gab einen Ausweg: alle Mittel zu mischen, zu komponieren und sie je nach Bedarf anzuwenden – und – was niemals schaden konnte – ein wenig »pervers« zu werden. Es hielt die unerträglichen langweiligen Männer fern und gab immer einen Gesprächsstoff. Schließlich führte es so weit vom elterlichen Haus weg, von der Mutter, vom Vater, vom eigenen Blut, daß man fast sicher war, nie mehr in die eigene Vergangenheit zurückzufallen.
So bekam Erna eine Freundin, zwei, drei Freundinnen.
Frühere Heiratsvermittler, die zu der Branche gekommen waren, ehe sie selbst wußten, warum, schüttelten den Kopf und erwogen in Gedanken, wie eine so hübsche Frau zur Normalität bekehrt werden könnte. Im Grunde überlegten es alle Männer, sogar die Intellektuellen, die ja mit der Erscheinung vertraut waren. Ihnen gefiel Erna ausgezeichnet. Ihnen gefiel diese Koketterie, die doch an Männer nutzlos verschwendet zu werden schien und eben deshalb die Männer reizte; diese Klugheit, die den schwierigen Gedanken folgen konnte; diese kollegiale Einfachheit, die keine Mühe machte; diese Grazie, die so krank und verloren war; dieses »außergewöhnliche Talent«, dem der »ungewöhnliche Intellekt« nicht schadete, diese ewige Bereitschaft Ernas, sich hinzugeben – aber keinem Mann; die Aussichtslosigkeit, ihr gefallen zu können, und das Bedürfnis, das sie verriet, trotzdem umworben zu werden. Man schätzte sie hoch, wie alles Unerreichbare, vor das die Natur selbst Schranken gelegt hat.
War Erna mit Geschäftsleuten von der Branche zusammen, so benahm sie sich anders: sie machte die Intellektuellen lächerlich und ihre »Weltfremdheit«. Sie gab zu erkennen, daß diese Zeit Männer der Tat brauche und daß Geldmachen eine größere Kunst sei als Theaterspielen. Sie schwärmte von Amerika und erzählte, daß sie schon als Kind dort gewesen sei. Sie verbreitete Legenden über ihre armselige Abstammung und behauptete, so viel Geld verdienen zu müssen, weil sie noch Eltern und Geschwister auszuhalten habe, die im dunkelsten Stadtteil von Wien lebten. Das hinderte sie freilich nicht, ungarische Grafen zu kennen. Sie verlor keinen Augenblick die Überlegenheit eines Künstlers, obwohl sie vorgab, Talent nicht zu schätzen, am wenigsten ihr eigenes. Sie benahm sich wie ein Aristokrat, der keine Vorurteile zu kennen vorgibt, unter Bürgern, die ihn verehren – nicht, weil er keine Vorurteile hat, sondern weil er ein Aristokrat ist, der keine hat.
Sie sprach von oben herab und von gleich zu gleich.
»Sie ist charmant!« sagte Herr Prinz von der Alga GmbH.
»Ob sie charmant ist!« bestätigte der Herr Direktor Natanson.
Und beide luden sie – ohne daß einer vom andern wußte – zu einer Spazierfahrt ein.
Sie ging mit einem, sie ging mit dem andern, ließ jeden von ihnen ihre scheinbare schüchterne Wehrlosigkeit auskosten, jeden die Hoffnung hegen, daß er und gerade er sie zu einem »normalen Leben« zurückzuführen imstande wäre, wenn dieser ersten Fahrt ein paar noch intimere folgen könnten, und bekam von beiden Angebote.
Kleine Rollen übernahm sie nicht mehr. Dem bedeutenden Rechtsanwalt – dem sie vorläufig nichts zahlte – vertraute sie ihre Geschäfte an. Sie ließ Regisseure warten, lernte reiten, fechten, schwimmen, klettern, springen, Akrobatik am Trapez – alles, was man für den Wilden Westen von Hollywood braucht. Sie wurde manchmal plötzlich krank, erlitt Unfälle, lud jeden Mittwoch maßgebende Männer ein, nahm einen Sekretär auf und nur wenig Einladungen, kaufte Buddhas bei Antiquitätenhändlern, wurde in illustrierten Blättern reproduziert, gab »grundsätzlich« kein Interview, flog im Aeroplan, statt in der Eisenbahn zu fahren, setzte sich wirklichen Gefahren aus, um berühmt zu werden, unterstützte Streikkomitees, trug radikale Gedichte vor, nannte Menschen, die sie geringschätzte, Genossen, ließ sich aber auch mit hohen Offizieren bekannt machen und »konnte auch sie verstehen«, erreichte schließlich, daß man ihr hohe Gagen zahlte, und machte Schulden, hatte Erfolg, Ehren und alle Vorteile, welche die Kunst zu imponieren einbringt.
Sie begann, nach Hollywood Fäden zu spinnen.
XIV
Ich fühlte niemals den Wunsch, Erna, die immer noch und gleichsam provisorisch am Theater spielte, auf der Bühne zu sehn. Ich könnte eher sagen, daß ich das Bedürfnis hatte, sie nicht in den Rollen zu beobachten, die ihr der Beruf zuteilte, sondern in den anderen, die sie sich selbst ausgesucht hatte und die sie am Tag besser spielte als die offiziellen am Abend und auf der Bühne. Zu einer natürlichen Geringschätzung des Theaters, von der ich glaube, daß sie mir angeboren ist, gesellte sich im Fall Erna die Furcht, ich könnte die Klarheit verlieren, mit der ich sie sah und durchschaute, die Furcht, daß ich, durch das Spiel der beruflichen Komödiantin verwirrt, dem der privaten verfallen müßte. Dieser Vorgang ist nicht selten. Er scheint mir, daß die Schauspieler und besonders die Schauspielerinnen sich einer moralischen Beurteilung entziehen, indem sie sich einer künstlerischen aussetzen, und daß sie, sooft ihnen jemand verfällt, in Liebe, Ergebenheit und Verehrung, sie ihre Eroberung nicht mit den ehrlichen, sozusagen primären Mitteln der Frau gemacht haben, sondern sie der Milde zu verdanken haben, mit der man zum Beispiel ihrer billigen Koketterie begegnet, in Anbetracht ihrer beruflichen Notwendigkeit, in manchen Augenblicken billig zu werden, um wirksam zu sein. Deshalb verzeihen wir eine Geschmacklosigkeit einer Frau von der Bühne eher als einer andern. Mancher Schauspielerin sehen wir, sogar wenn wir Moralisten sind, eine moralische Unzulänglichkeit nach.