Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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Preis bekommen. Nach einer Viertelstunde weigerte sich Benjamin Lenz nicht mehr. Las er in den Menschen? Alles könnte man ja vergessen, sagte Lenz, wenn Theodor als Freund käme. Oder scheinbar als Freund.

      Sie gingen.

      XVI

       Inhaltsverzeichnis

      Sie saßen, drei Männer, im Café auf dem Potsdamer Platz. Zwischen ihnen flogen gleichgültige Worte, Mißtrauen würgte in ihren Hälsen, Angst lähmte ihre Zungen. An einem Nebentisch saß Benjamin Lenz.

      Theodor bereute. Es war zu spät. Er hatte nicht geahnt, wie schwer es ihm kommen würde. Niemand half ihm. Er sollte anfangen. Es war, als weidete man sich an seiner Qual.

      Und es ist genauso wie einmal – lang war es her – in der Schule, wenn er anderes sagen soll als auswendig Gelerntes. Es war Lärm im Café, an den Nebentischen summte das Gespräch der Gäste, Tassen klirrten, und dennoch schlug ihm eine Stille entgegen, als beherrschte das Warten alle Menschen. Erst als sie durch die Straßen gingen, gewann er sich wieder. Er ging zwischen zwei kleinen schwarzen Männern, die sich jedes Wort einprägten.

      Er verstellte sich nicht. Wozu brauchte er Verstellung? Er konnte immer ableugnen; aufrichtiges Geständnis für erheucheltes ausgeben. Seine wahren Gründe klangen überzeugend.

      Er erzählte von seiner Unzufriedenheit; schilderte das Mißtrauen, das ihn umgab; gestand, daß ihn Ehrgeiz trieb.

      Er lüftete später, in einem Büro, Zipfel von Geheimnissen.

      Es war spät, als er schied, er fuhr nach Potsdam, las ein Abendblatt. Als er aufblickte, sah er Benjamin Lenz. Er saß Theodor gegenüber.

      Sie gingen durch den Potsdamer Abend, durch alte Gäßchen, die ganz unwahrscheinlich aussahen, und Benjamin führte, und Theodor wußte nicht, daß er geführt wurde. Vom 2. November sprach Benjamin Lenz, er glaubte nicht an Revolutionen. Er glaubte an ein kleines Blutbad, kaum der Sorgen wert, in Deutschland nicht selten und eigentlich jede Woche wahrscheinlich.

      Vielleicht sprach er diesmal aufrichtig, Benjamin Lenz?

      Es war ein wehmütiger Abend, mit violetten und gelb schimmernden Wolken, mit einem zahmen, behutsamen Abendwind, und Theodor ging, durch raschelndes Laub, die Straße, die zum Bahnhof führte, entlang und fühlte eine Rührung, wie damals in den Feldern des Herrn v. Köckwitz.

      Und eine Wärme kam von Benjamin Lenz, so daß Theodor zu sprechen anfing und seine Worte nicht mehr wägte und über Trebitsch klagte und über die Undankbarkeit überhaupt. Was machte ein Mann von den Fähigkeiten Lohses bei der Reichswehr?

      Was machte so ein Mann bei der Reichswehr? Es kam, ein erquickendes Echo, von Benjamin Lenz zurück. Wer hatte ihn beiseite geschoben? Es kam darauf an, es zu erfahren. Man mußte seinen Gegner kennen.

      Oh, wie wußte Lenz Bescheid. Man sollte sich mit Benjamin Lenz gut verhalten.

      Wieviel wußte er von Theodor allein? Alles. Ahnte er auch die Angelegenheit Klitsche? Er kannte sie. Er sagte:

      »Sie können nicht umsonst Blut vergossen haben, Herr Leutnant Lohse. Andere können über Leichen gehen, der Idee wegen oder weil sie Mörder sind von Geburt. Sie aber, Herr Lohse, glauben längst nicht mehr an die Idee und sind kein geborner Mörder. Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von Ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit Ihrem Leben, Ihren Einnahmen, Ihrer sozialen Stellung. Sie hätten versuchen sollen, im Rahmen Ihrer Persönlichkeit mehr zu erlangen, niemals aber ein Leben, das Ihrer Begabung, Ihrer Konstitution zuwiderläuft.«

      Nein, Theodor konnte es nicht, durfte es nicht. Klein und unbeachtet hätte er ohne Umwege auch bleiben können; wäre Hauslehrer bei Efrussi und zufrieden.

      An diesem wehmütigen Abend fiel ihm Frau Efrussi ein. Die sanfte Berührung ihres Oberarmes im Auto, ihr Lächeln.

      Zu ihr und ihresgleichen führte der Weg, an dessen Ende die Macht lag. Wie aufrichtig sprach Benjamin, der Spitzel. Es gibt Abende, dachte Theodor, an denen die Menschen gut werden müssen, entzaubert werden.

      Da fiel ihm auch schon Günther ein, Günther, der seine Braut geliebt hatte; dieses Angesicht sah er, das violett unter den Augen schimmernde, und den enthüllten Oberkiefer unter krampfhaft emporgezogenen Lippen.

      Wie pfiffen Züge sehnsüchtig durch die Nacht, der Friede kam vom blauen Himmel.

      An Theodors Seite geht Benjamin Lenz, und das ist vielleicht sein Freund.

      Es ist dein Waffengefährte, Theodor. Seine Schlauheit ist nützlich. Zu zweit ist man erfolgreich. Und wer anderer könnte dein Bundesgenosse sein als Lenz? Benjamin Lenz versteht Theodor Lohse.

      Sie gingen den langen Weg zurück; zwischen ihnen war die gute, beschwichtigende Schweigsamkeit der Freundschaft. Sie drückten einander zum Abschied die Hand. Der Druck ihrer Hände war ein wortloses Bündnis.

      XVII

       Inhaltsverzeichnis

      Seit jenem Abend kam Benjamin Lenz täglich ins Berliner Büro in der Potsdamer Kaserne. Wieviel Gewehre hatte Theodor an seinen Bismarck-Bund verteilt? Ob Marinellis Flucht schon vorbereitet war? Wie oft gingen die Kuriere von Leipzig nach München?

      Alles wußte Benjamin; wußte mehr, als man ihm sagte. Dafür brachte er Theodor zu den anderen. Bekannte Gesichter aus München glaubte Theodor wiederzufinden: den Invaliden Klatko aus den oberschlesischen Abstimmungskämpfen; den Deserteur Conti aus Triest; den Vizefeldwebel Fritsche aus Breslau; den gewesenen Polizeiwachtmeister Glawacki; den Buchbinder Falbe aus Schleswig-Holstein.

      Eine Woche lang ging er in die Versammlungen. Sah die verräucherten, schlecht beleuchteten Lokale, die wie Bierkeller rochen; hörte Stimmen der Redner, hohe Kopfstimmen, tiefe, wie aus Gräbern kommende, heisere, rasselnde, das tausendfache Rufen der Zuhörer, stand hart neben ihnen, roch ihren Schweiß und ihre Armut, sah in flackernde Pupillen, sah dürre Gesichter auf knochigen Hälsen, eckige Fäuste an dünnen, wie ausgesogenen Handgelenken; sah Schnurrbärte, willkürlich gekämmte über zahnlosen Mündern, zwischen geöffneten Lippen schwarze Zahnlücken, Bandagen, von Jodoform durchtränkte, über entblößten Armen. Sah Frauen mit spärlichem, straffgekämmtem, wasserblondem Haar, die Armseligkeit der Trägerin, ihren gedörrten Hals, sah durchsichtige, dünne, gelbliche Haut, in schlaffen Fetzen hängende. Sah Mütter mit großköpfigen Kindern an welkender Brust, sah Jünglinge mit verwegenen Locken über mutigen Stirnen, dennoch schon von Arbeit und Krankheit gezeichnete, mit unnatürlich großen Augenhöhlen; sah junge Mädchen in derben Schuhen, mit bleichen Gesichtern, männersuchenden Augen, gefärbten Lippen, hörte ihre hemmungslos kreischenden Stimmen. Er sah sie trinken, roch den Schnaps, verstand den Dialekt nicht, lächelte ein leeres Lächeln, wenn jemand an ihn stieß. Fremd waren ihm die Menschen, fremde Gesichter trugen sie, nicht von seiner Welt waren sie, nicht von dieser Welt. Er bedauerte sie nicht, er sah, daß sie leiden mußten, aber welcher Art ihr Leid war, konnte er sich nicht vorstellen. Den einzelnen hätte er vielleicht verstanden, in der Menge aber gab es keine Kontur, keinen bleibenden Punkt. Alles schwankte und schwamm. Wie sie liebten, wußte er nicht, und nicht, wie sie weinten. Er sah, wie sie aßen, Brot, das in den Rocktaschen lag, rissen sie mit Daumen und Zeigefinger heraus, zerpflückten es gleichsam und stopften es mit vorgehaltener Hand in den lechzenden Mund. Aber wie waren ihre Zungen beschaffen, ihre Gaumen? Wie schmeckten sie? Manchmal, wenn sie jubelten, war es eine Drohung, und nicht anders klang ein Zuruf der Erbitterung.

      Er liebte sie nicht. Er fürchtete sich vor ihnen, Theodor Lohse. Seine eigene Furcht haßte er. »Herr Leutnant Lohse«, sagte Benjamin Lenz, »das ist das deutsche Volk, für das Sie zu arbeiten glauben. Die Offiziere in den Kasinos sind nicht das Volk.« Und Benjamin Lenz freute sich. So war es in Europa, wo man nicht sprach, was man tat, und umgekehrt. Wo einer Offiziere