der Doktor lacht. Er ist nicht beleidigt.
»Ich möchte Sie aufhängen!« sagt Zwonimir einmal freundschaftlich und klopft dem Doktor auf die Schulter.
Nie hat dem Doktor jemand auf die Schulter geklopft.
»Ein herrliches Hotel«, sagt Zwonimir und fühlt nicht das Geheimnisvolle dieses Hauses, in dem fremde Menschen, nur durch papierdünne Wände und Decken geschieden, nebeneinander leben, essen, hungern. Er findet es selbstverständlich, daß die Mädchen ihre Koffer verpfänden, bis sie nackt der Frau Jetti Kupfer anheimfallen.
Er ist ein gesunder Mensch. Ich beneide ihn. Bei uns in der Leopoldstadt gab es keine so gesunden Kerle. Er freut sich an den Gemeinheiten. Er hat keine Achtung vor den Frauen. Er kennt keine Bücher. Er liest keine Zeitung. Er weiß nicht, was in der Welt vorgeht. Aber er ist mein treuer Freund. Er teilt sein Geld mit mir, und er würde auch sein Leben mit mir teilen.
Und ich täte es genauso.
Er hat ein gutes Gedächtnis und weiß nicht nur die Namen der Menschen, sondern auch die Nummern ihrer Zimmer. Und wenn der Zimmerkellner sagt: 403 ist bei 41 gewesen, so weiß er, daß der Schauspieler Nowakowski bei Frau Goldenberg geschlafen hat. Er weiß auch vieles über Frau Goldenberg; es ist jene Dame, die ich am ersten Tage getroffen habe.
»Hast du Geld genug?« frage ich.
Aber Zwonimir zahlt nicht. Er ist dem Hotel Savoy verfallen.
Ich erinnere mich an ein Wort des toten Santschin. Der hatte mir gesagt – es war ein Tag vor seinem Tode –, daß alle, die hier wohnten, dem Hotel Savoy verfallen waren. Niemand entging dem Hotel Savoy. Ich warnte Zwonimir, aber er glaubte nicht. Er war gesund bis zur Gottlosigkeit, und er kannte keine Macht außer seiner eigenen.
»Das Hotel Savoy ist mir verfallen, Bruder«, sagte er.
Nun war schon der fünfte Tag seit seiner Ankunft vergangen. Am sechsten faßte er den Entschluß zu arbeiten. »Man darf nicht so leben«, sagte er.
»Es gibt keine Arbeit hier, laß uns weitergehn!« bat ich. Aber Zwonimir wollte just hier Arbeit finden für uns beide.
Er fand wirklich Arbeit.
Bei der Bahn, am Güterbahnhof, waren schwere Hopfenballen da. Sie mußten umgeladen werden, und es gab keine Bahnarbeiter. Es waren einige besoffene, faule Kerle da, und der Vorsteher sah wohl ein, daß er monatelang mit diesen Beamten arbeiten müßte. Von den streikenden Arbeitern Neuners meldeten sich kaum zehn, zwei jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine kamen, und dann Zwonimir und ich. Wir bekamen Essen in der Bahnküche und mußten um sieben Uhr früh zur Stelle sein. Ignatz wunderte sich, als er sah, wie ich in meiner alten Militärbluse mit meinem Eßgerät ausrückte und schmutzig vom Kohlendunst und von der Arbeit heimkam.
Zwonimir übernahm das Kommando über uns Arbeiter.
Wir arbeiten fleißig. Wir bekommen scharfe Packhaken, die stoßen wir in die Hopfensäcke und rollen sie auf kleine Handwagen. Wenn wir die Haken eingeschlagen haben, kommandiert Zwonimir: Hopp! dann ziehen wir an – Hopp! wir rasten eine Weile – Hopp! nun lagen die fetten, grauen Säcke unten. Sie sahen wie große Walfische aus, und wir sind wie Harpuniere. Rings um uns pfeifen Lokomotiven, leuchten grüne und rote Signale auf, aber wir kümmern uns um gar nichts – wir arbeiten. Hopp! Hopp! dröhnt die Stimme Zwonimirs. Die Menschen schwitzen, die zwei ukrainischen Juden können es nicht aushalten, sie sind schwächliche und magere Handelsmänner.
Ich fühle Schmerz in den Muskeln, und meine Oberschenkel zittern. Wenn ich meinen Haken auswerfen soll, spüre ich einen schweren Druck in der rechten Schulter. Der Haken muß tief sitzen, sonst zerreißt der Sack, und Zwonimir flucht.
Einmal kamen wir um zwölf in die Küche, es war ein heißer Tag, wir waren müde, und auf unserer Bank saßen schwätzende Schaffner. Sie redeten von Politik und vom Minister und von Gehaltszulagen. Zwonimir bat sie, Platz zu machen, die Beamten fühlten sich wichtig und standen nicht auf. Zwonimir wirft den langen, hölzernen Tisch um, an dem sie sitzen. Die Schaffner schreien und wollen Zwonimir schlagen, aber er fegt ihre Kappen zur offenen Tür hinaus. Es sieht aus, als hätte er sie geköpft. Mit einer Bewegung seiner langen Arme hatte er ein halbes Dutzend Mützen hinausgefegt. Die Schaffner folgten ihren Mützen, nun standen sie da, ohne Adler kamen sie sich jämmerlich vor, sie drohten und zogen ab.
Wir arbeiten schwer und schwitzen. Wir riechen unsern Schweiß, stoßen mit unseren Körpern zusammen, haben schwielige Hände und fühlen unsere Kräfte und Schmerzen gleich.
Vierzehn Männer sind wir, kämpfen gegen schwere Hopfenballen, die nach Deutschland gehen sollen, Absender und Empfänger verdienen an diesen Hopfenballen mehr als wir vierzehn zusammen.
Das sagt uns Zwonimir jeden Abend, wenn wir nach Hause gehn.
Wir kennen den Absender nicht, ich lese nur seinen Namen auf den Waggons: Ch. Lustig heißt er, ein reizender Name. Ch. Lustig wohnt in einem schönen Hause, wie Phöbus Böhlaug, sein Sohn studiert in Paris und trägt geschliffene Schuhe. »Lustig, reg dich nicht auf!« sagt seine Frau.
Wie der Empfänger heißt, weiß ich nicht, er hat Grund genug, Fröhlich zu heißen.
Wir waren alle vierzehn wie ein einziger Mann.
Alle waren wir gleichzeitig da, alle gingen wir gleichzeitig essen, alle hatten wir dieselben Bewegungen, und die Hopfenballen waren unser gemeinsamer Feind. Ch. Lustig hat uns zusammengeschweißt, Lustig und Fröhlich, wir sehen mit Angst, wie die Hopfenballen aufhören, bald ist unsere Arbeit zu Ende, und unsere Trennung scheint uns schmerzvoll, als würde man uns auseinanderschneiden müssen.
Und ich bin kein Egoist mehr.
Nach drei Tagen waren wir mit der Arbeit fertig. Wir waren schon um vier Uhr nachmittags frei, aber wir blieben auf dem Güterbahnhof und sahen zu, wie unsere Hopfenballen langsam nach Deutschland hinausrollten …
XVII
Es ist wieder die Zeit der Heimkehrer.
Sie kommen in Gruppen, viele kommen auf einmal. Sie werden herangespült wie bestimmte Fische zu bestimmten Jahreszeiten. Vom Schicksal westwärts gespült werden die Heimkehrer. Zwei Monate lang war keiner zu sehen. Dann, wochenlang, fluten sie herbei aus Rußland und Sibirien und aus den Randländern.
Der Staub zerwanderter Jahre liegt auf ihren Stiefeln, auf ihren Gesichtern. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Stöcke plump und abgegriffen. Sie kommen immer denselben Weg, sie fahren nicht mit der Eisenbahn, sie wandern. Jahrelang mögen sie so gewandert sein, ehe sie hier ankamen. Sie wissen von fremden Ländern und fremden Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift. Sie sind Landstreicher. Ob sie mit Freuden nach Hause wandern? Wären sie nicht lieber in der großen Heimat geblieben, statt in die kleine heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwärme?
Es ist vielleicht nicht ihr Wille, nach Hause zu gehn. Sie werden nach dem Westen gespült wie Fische zu gewissen Jahreszeiten.
Wir standen, Zwonimir und ich, am Rande der Stadt, wo die Baracken sind, stundenlang, und forschten unter den Heimkehrern nach einem bekannten Gesicht.
Viele gingen an uns vorbei, und wir erkannten sie nicht, obwohl wir gewiß mit ihnen zusammen geschossen und gehungert haben. Wenn man so viele Gesichter sieht, kennt man keines mehr. Sie sehen einander gleich wie Fische.
Traurig ist es, daß da einer vorbeigeht, den ich nicht erkenne, und wir haben doch eine Todesstunde miteinander geteilt. Wir waren im grausamsten Augenblick unseres Lebens eine einzige Angst – und jetzt erkennen wir einander nicht. Ich entsinne mich, daß ich dieselbe Trauer fühlte, als ich einmal ein Mädchen sah, in einem Zug trafen wir uns, und ich wußte nicht, ob ich mit ihr geschlafen oder nur meine Wäsche von ihr hatte flicken lassen.
Manche Heimkehrer wollten, wie wir, in dieser Stadt bleiben. Das Hotel Savoy bekam neuen Zuzug. Auch Santschins Zimmer war schon bewohnt. Alexanderl