Йозеф Рот

Gesammelte Werke von Joseph Roth


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      »Ja, der Neuner«, sagen die Arbeiterfrauen.

      Sie waren elend und blaß, und die schwangeren schleppten ihre gesegneten Leiber wie eine verhaßte Last.

      »Wenn man ein Bündel Holz schleppt vom Walde«, sagt Zwonimir, »weiß man wenigstens, daß es warm wird in der Stube.«

      »Neuner hätte ja Zulagen für jedes Kind gegeben, wenn sie nicht angefangen hätten zu streiken, wäre es doch irgendwie gegangen«, weinten die Frauen.

      »Es wäre nicht gegangen«, sagte Zwonimir, »es kann nicht gehen, wenn der Neuner verdienen will.«

      Es war eine Borstenreinigungsfabrik. Dort reinigte man die Schweinehaare von Staub und Schmutz, und es wurden Bürsten daraus gemacht, die wieder zum Reinigen dienen. Die Arbeiter, die den ganzen Tag die Borsten strählten und siebten, schluckten den Staub und bekamen Lungenbluten und starben im fünfzigsten Jahr ihres Lebens.

      Es gab allerlei Hygiene und Gesetze; die Arbeiter sollten Masken tragen, die Arbeitsräume sollten soundso viel Meter hoch und weit sein und die Fenster offen. Aber eine Renovierung der Fabrik hätte Neuner viel mehr gekostet als doppelte Kinderzulagen. Deshalb wurde der Militärarzt zu allen sterbenden Arbeitern gerufen. Und er bestätigte schwarz auf weiß, daß sie nicht an Tuberkulose gestorben waren und auch nicht an Blutvergiftung, sondern am Herzen. Es war ein herzkranker Menschenschlag, alle Arbeiter Neuners starben »infolge Herzschwäche«. Der Militärarzt war ein guter Kerl, er mußte jeden Tag im Hotel Savoy Schnäpse trinken und den Santschins Weine schenken, wenn es zu spät war.

      Die Gewerkschaftsführer lebten auch schlecht, aber sie kamen sich vor wie Bürgermeister der Fabrik, und Neuner war ihr König. Jetzt suchten sie immer wieder Wege, um zu Neuner zu kommen.

      Er empfing sie mit Wein und Kaviarbrötchen, gab ihnen Vorschüsse und vertröstete sie mit Bloomfield.

      Es war dem Fabrikanten Neuner überhaupt gar nicht um die Arbeit zu tun.

      Bloomfield, dessen Arm weit war und über den großen Teich reichte, Bloomfield war an allen Fabriken seiner alten Vaterstadt beteiligt. Wenn er einmal im Jahr herüberkam, ordnete sich alles, ohne daß es Neuner etwas gekostet hätte.

      Neuner wartete auf Bloomfield.

      Man wartete also auf Bloomfield – nicht nur im Hotel Savoy. In der ganzen Stadt wartete man auf Bloomfield. Im Judenviertel erwartete man ihn, man hielt mit den Devisen zurück, das Geschäft war flau. Man hoffte auf ihn in den oberen Stockwerken des Hotels, Hirsch Fisch zitterte vor Angst, Bloomfield könnte ein Unfall zugestoßen sein, und er hatte sich schon schöne Lose träumen lassen.

      Übrigens hatte sich Hirsch Fisch mit meinem Los geirrt, die Ziehung war erst in zwei Wochen. Ich erfuhr es im Gemeindeamt.

      Auch in der Armenküche sprach die Welt von Bloomfield. Wenn er kam, bewilligte er alle Forderungen, die Erde bekam ein neues Gesicht.

      Was machte bei Bloomfield so eine Forderung? Soviel gab er im Tag für Zigarren aus.

      Man erwartet Bloomfield überall: Im Waisenhaus ist ein Schornstein eingestürzt, man richtet ihn nicht, weil Bloomfield jedes Jahr etwas für das Waisenhaus gibt. Kranke Juden gehn nicht zum Arzt, weil Bloomfield die Rechnung bezahlen soll. Am Friedhof hat man eine Erdsenkung bemerkt, zwei Kaufleute sind abgebrannt, die Kaufleute stehen in der Gasse mit ihren Warenballen, es fällt ihnen nicht ein, die Läden zu reparieren – womit sollten sie zu Bloomfield gehen? Die ganze Welt wartet auf Bloomfield. Man wartet mit dem Versetzen des Bettzeugs, mit Anleihen auf Häuser, mit Hochzeiten.

      Es ist eine große Spannung in der Luft. Abel Glanz sagt mir, er hätte Gelegenheit, jetzt eine gute Stellung anzunehmen. Aber lieber wäre ihm eine Stellung bei Bloomfield. Ein Onkel des Glanz lebt in Amerika, bei dem könnte man wohnen, vielleicht gibt Bloomfield nur die Schiffskarte, ohne Anstellung, dann würde er sich schon durch den Onkel fortbringen.

      Glanz’ Onkel verkauft Limonaden in den Straßen New Yorks.

      Sogar Phöbus Böhlaug braucht Geld, um sein Geschäft zu »vergrößern«. Er wartet auf Bloomfield.

      Aber Bloomfield kommt nicht.

      Sooft der Zug aus Deutschland einfährt, stehen viele Menschen am Bahnhof. Vornehme Herren mit braunen und gelben Reiseplaids kommen mit großen Lederkoffern, in Gummimänteln, mit zusammengerollten Schirmen in Etuis.

      Aber Bloomfield kommt nicht.

      Dennoch gehen die Menschen täglich zur Bahn.

      Drittes Buch

       Inhaltsverzeichnis

      XVIII

       Inhaltsverzeichnis

      Plötzlich war Bloomfield da.

      Es ist immer so mit den großen Ereignissen, mit den Kometen und Revolutionen und Hochzeiten der regierenden Fürsten. Die großen Ereignisse pflegen überraschend zu kommen, und jede Erwartung bewirkt nur, daß sie zögern.

      Bloomfield, Henry Bloomfield kam in der Nacht um zwei Uhr im Hotel Savoy an.

      Um diese Zeit verkehrten keine Züge – aber Bloomfield kam auch gar nicht mit der Bahn – war Bloomfield denn auf Eisenbahnen angewiesen? Er fuhr von der Grenze im Auto hierher, in seinem amerikanischen Salonauto, weil er sich auf die Eisenbahnen nicht verließ.

      So einer war Henry Bloomfield: Das Sicherste schien ihm ungewiß, wenn alle Menschen mit dem Zugverkehr rechneten wie mit einem Naturgesetz, mit Sonne, Wind und Frühling, so machte Bloomfield eine Ausnahme. Er traute nicht einmal den Fahrplänen, obwohl sie doch staatlich waren und einen Adler trugen und Siegel von verschiedenen Bezirksdirektionen und das Resultat mühevoller Berechnungen waren.

      Bloomfield kam um zwei Uhr nachts im Hotel Savoy an, und Zwonimir und ich waren Zeugen seiner Ankunft.

      Wir kommen nämlich um diese Zeit aus den Baracken.

      Zwonimir trank eine Menge und küßte alle. Zwonimir konnte sehr viel trinken. Wenn er ins Freie kam, war er wieder nüchtern, die Nachtluft nahm ihm jeden Rausch – »der Wind bläst mir den Spiritus aus dem Kopf«, sagt Zwonimir.

      Die Stadt ist still, eine Turmuhr schlägt. Eine schwarze Katze läuft über den Bürgersteig. Man kann die Atemzüge der Schlafenden hören. Alle Fenster des Hotels sind dunkel, eine Nachtlampe lauert rötlich vor dem Eingang, in der engen Gasse sieht das Hotel aus wie ein düsterer Riese.

      Durch die Scheiben der Hoteltür sieht man den Portier. Er hat die betreßte Livreekappe abgelegt – zum erstenmal sehe ich, daß er einen Schädel besitzt, ein wenig überrascht mich diese Tatsache. Der Portier hat ein paar graue Haarbüschel, sie wachsen um seine Glatze und rahmen sie ein wie eine Girlande eine Geburtstagsplatte.

      Der Portier streckt beide Beine weit von sich, er träumt gewiß, daß er in einem Bett liegt.

      Die Normaluhr in der Portierloge zeigt drei Minuten vor zwei.

      In diesem Augenblick fährt ein Kreischen durch die Luft, es ist, als ob die ganze Stadt auf einmal aufschreien würde.

      Einmal und noch einmal und zum drittenmal kreischt es.

      Schon flitzt da und dort ein Fenster auf, zwei Stimmen sprechen. Ein Dröhnen erschüttert das Holzpflaster, auf dem wir stehen. Ein weißer Schein erfüllt die Gasse, es ist, als ob ein Stück des Mondes in die schmale Gasse gefallen wäre.

      Der weiße Schein kam von einer Laterne, einer Blendlaterne, einem Scheinwerfer: dem Scheinwerfer Bloomfields.

      So kam also Bloomfield, wie ein Nachtangriff. Der Scheinwerfer erinnert mich an den Krieg, ich dachte an »feindliche Flieger.«

      Es war ein großes