(Eine kurze Rückkehr in die) Retrolandschaft
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
Die Hinterfragung des Innovations- und Originalitätsmythos
Immer Ärger mit dem Rückspiegel
Vorwort zur deutschen Ausgabe
von Didi Neidhart
In Retromania konstatiert Simon Reynolds eine Epoche, in der sich Popmusik zunehmend durch eine immer schnellere Abfolge von Retroschleifen um sich selber dreht und bei dieser permanenten Rückschau auf das Immergleiche, schon einmal Dagewesene langsam zum Stillstand kommt. Box-Sets über Box-Sets mit zig Bonus-Outtakes, Reunions von Bands, komplett nachgespielte Alben-Klassiker als Live-Spektakel und eine Tonträgerindustrie, die als Ausdruck ihrer Retro-Ökonomie nun auch in Europa das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen von 50 auf 70 Jahre erhöht: Das ist nur die Speerspitze einer Entwicklung, die Pop immer mehr zu einer musealen Angelegenheit macht, bei der Archive (bzw. die von Reynolds beschriebenen »Anarchive«) eher zu End- denn zu Ausgangspunkten popistischer Praxis werden. Pop hat sich damit, gerade nachdem er in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, quasi von der Welt abgekoppelt. Hat seine Kommentarfunktion wie seine Other- und Outerness verloren, kennt keine unzeitgemäßen Betrachtungen und Herangehensweisen mehr und macht es sich dort gemütlich, wo die Retro-Ökonomie ohne große Risiken Rendite einfahren kann, weil sich dieses oder jenes Revival schon einmal auf dem Pop-Aktienmarkt mit einer super Gewinnausschüttung bewährt hat.
Mit dem Begriff »Retromania« habe Simon Reynolds »die neue Zivilisationskrankheit diagnostiziert und mit dem gleichnamigen Buch den aktuellen Diskurshit gelandet«, schreibt Klaus Walter in der Süddeutschen Zeitung.
Und Retromamia war tatsächlich das meist rezipierte Buch über Popmusik der letzten Jahre, dem einzelne Zeitungen und Magazine gleich mehrere durchaus kontroverse Artikel gewidmet haben. Denn Reynolds macht es einem wirklich nicht leicht mit seiner Passage, die er durch den retromanischen Dschungel schlug.
Doch worum geht es? Es geht u. a. um das Abhandenkommen von »Future« als Paradigma der Popmusik, ein Paradigma, das sich – im Mainstream wie in den Nischen – ironischerweise ab dem Zeitpunkt verflüchtigte, als das »No Future«-Setting des Kalten Kriegs (atomare Bedrohung, Wettrüsten) in sich zusammenfiel und die Jahreszahl 2000 wirklich im Kalender stand. Reynolds argumentiert daher auch eher »aus der Haltung des enttäuschten Emphatikers« heraus, »der sich die Gegenwart anders vorgestellt hat, als sie noch Zukunft hieß« (Rabea Weihser in Die Zeit).
Retromania beschwört ein Früher, als Pop noch von anderen Orten, Welten, Universen sprach und gleichsam im Jetzt andere Zeitrechnungen einführte, um vom Anderen, Kommenden zu erzählen. Kurz, eine Zeit, als Pop noch ein utopisches Begehren hatte und ein »Back to the Future« noch kein rückwärts gewandtes »Back to the Back« bedeutete, sondern vorwärts blickte, um die Gegenwart umzuschreiben.
Nur, was tun, wenn jeder »Blast From the Past«, jedes »Back From the Grave« in den eigenen Ohren nur noch nach Farce oder Tragödie klingt und sich die Musikleidenschaft immer mehr in ein melancholisches Leiden an der Musik verwandelt?
Gerade in den autobiografisch gefärbten Kapiteln zeigt sich: Hier spricht jemand, der sich selber in das Retro-Schlamassel hineinmanövriert hat und sich nun aus der eigenen Retro-Falle wieder herausschreiben will.
Teil davon ist das komische Gefühl eines Endvierzigers, jetzt aber wirklich alles schon gehört zu haben und die ernüchternde Feststellung, endgültig Augen- und Ohrenzeuge eines Epochen-Endes zu sein. Zeuge einer Zeit, in der Popmusik und -kultur zu einem alternativlosen Segment einer globalen Unterhaltungsindustrie geworden ist, zu einem Spektakel unter vielen: eine unglamouröse aber schrille Wegwerfware, die jenseits der ökonomischen Aspekte von fast niemandem wirklich ernst zu nehmen ist. Unterhaltung eben, aber keine Popkultur.
Es geht nicht um ein Zurück, zu dem, »Wie es mal war«, sondern um neue Perspektiven auf das, was nicht war, aber hätte sein können, wenn sich damals schon gewisse Wege ergeben und gekreuzt hätten.
Nicht nur, weil jedes Wiederhören und Wiedersehen per se anders ist, ist der Blick in den sonischen Rückspiegel weniger von der Ernüchterung geprägt, auf Altbekanntes zu stoßen, sondern vielmehr von der Verzückung, so viel avant la lettre vorzufinden. Wir hören uns retroaktiv in die Zukunft (oder was einmal darunter verstanden worden ist). Was wir aus dem Gestern hören, ist ja nicht die Musik, wie sie damals gedacht war oder wie sie damals gehört wurde. Was uns heute daran fasziniert, ist genau das, was damals überhört, übersehen, gar nicht intendiert oder einfach zu gut versteckt wurde, um es gleich decodieren zu können. Mit dem Griff in die Retro-, Second-Hand-, Reissues-Kiste sucht man nicht das Altbekannte, sondern wird von dem geleitet, was Walter Benjamin als »vergessene Versäumnisse« und verpatzte bzw. »verpasste Gelegenheiten« bezeichnet.
Erinnern wir uns einfach an Kodwo Eshuns Grundhypothese aus Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction: Der Sound of »Now« kommt aus der vergangenen Zukunft und der zukünftigen Vergangenheit.
Das Neue ist sowieso meist (wenn nicht sogar immer) das (noch) nicht bekannte Alte. Einmal sind alle Zugänge geschlossen, dann tun sich plötzlich Seitentüren auf, werden versteckte Eingänge zugänglich, ergeben sich ungeahnte Verbindungen. Gerade weil das Vergangene nicht immer und überall offen ist, geht anything eben nicht immer.
Wie Diedrich Diederichsen in seinem Text »Die Kunst besteht darin, Erregungsmaterial zu sein« zur »Retro-Mode« in der Süddeutschen Zeitung schreibt, geht es um eine Frage, die Pop sich schon immer gestellt hat: »Welche technisch-kulturelle Form gebe ich dem Verhältnis aus dem überwältigenden ersten Erlebnis, reflexiver Erinnerung und Verarbeitung in einem Moment?«
Das Gegenteil davon wäre eine »Retromanie«, die sich von längst amtlich beglaubigten Genrenormierungen leiten lässt. Der es um abgeschlossene, statt um abgebrochene, ausgefranste, nie wirklich ausformulierte Stile und Genres geht.
Vor dem Hintergrund von Benjamins »vergessenen Versäumnissen«, den verpatzten und »verpassten Gelegenheiten«, erweist sich Pop in den Nullerjahren selber als Pool »verpasster Gelegenheiten«. Hier setzt auch Reynolds’ Unbehagen ein. Die von den verschwundenen Utopien gelassenen Leerstellen werden heute von jenen besetzt, die die Rückkehr der Dinge als schon per se Entzaubertes betreiben und deshalb auch so vehement den Pop-Proseminar-Pflichtkanon als ewig zu Bewahrendes verteidigen.
Im Grunde verhandelt Reynolds das selbstgemachte Problem einer Popmusik, die ewig einem imaginierten Urzustand nachtrauert, der irgendwo zwischen Vormoderne und Moderne gewesen sein soll und den dann Roxy Music & Co mittels des Konzepts »Remake/Remodel« kaputt getrampelt haben (und er schlägt sich dabei nicht unbedingt auf die »Remake/Remodel«-Seite). Nur erwies sich spätestens seit den Nullerjahren durch die quasi feindliche Übernahme der auch von Reynolds favorisierten Parole »Rip it up & start again« auch das