indem sie permanent offline gingen. In seinem berühmten Essay für Atlantic, »Is Google Making Us Stupid?«, beklagte Nicholas Carr 2008 seine De-Evolution von »einem Taucher in einem Meer aus Wörtern« hin zu jemandem, der »auf der Oberfläche entlangschwirrt wie auf Jet-Skiern«, und er zitierte das traurige Eingeständnis des Pathologen und Medizin-Bloggers Bruce Friedman, er habe den Eindruck, dass sein Denken eine »Stakkato«-Qualität angenommen habe: »Ich kann Krieg und Frieden nicht mehr lesen, ich habe die Fähigkeit dazu verloren. Selbst ein Blog-Eintrag mit mehr als drei oder vier Absätzen ist zu viel, um es aufzunehmen, ich überfliege das nur.«
Carrs Essay, den er 2010 zum Buch Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert ausbaute, provozierte eine Vielzahl von Kommentaren, in manchen wurde er erwartungsgemäß als Technikfeind beschimpft, aber häufiger wurde ihm zugestimmt: Unsere vernetzte Existenz beeinträchtigt die Fähigkeit zu konzentriertem Arbeiten und erfüllender Versunkenheit. Im Webzine Geometer griff Matthew Cole Carrs Argument über Hyperlinks auf (»anders als Fußnoten … verweisen sie nicht nur auf ähnliche Arbeiten, sie treiben dich zu ihnen hin«), um das Leben als »einen permanenten Zustand der Beinahe-Entscheidung« zu beschreiben: als unschlüssigen Aufschub des Überspringens und Überfliegens, der »die Illusion von Aktivität und Entscheidung« suggeriert, aber in Wirklichkeit nur eine heimtückische Lähmung ist.
In vielerlei Hinsicht ist dieses flatterhafte Stadium der Ablenkung die angemessene Reaktion auf den Überfluss an Angeboten. Die für einen Autor schreckliche Memo »tl dr« (too long, didn’t read) wurde bisher noch nicht um »tl dl« und »tl dw« (too long, didn’t listen; too long didn’t watch) ergänzt, aber das kann nur eine Frage der Zeit sein, da viele von uns bestätigen können, dass wir bei einem YouTube-Video vorwärts scrollen. Der Name für diesen Zustand lautet Aufmerksamkeitsdefizitstörung, aber wie so viele Leiden und Dysfunktionen liegt diese Störung weder im Patienten, noch ist sie seine oder ihre Schuld; sie wird von der Umgebung ausgelöst, in diesem Fall von der Datenlandschaft. Unsere Aufmerksamkeit ist zerstreut, gereizt, gequält. Bisher gibt es in der Musik kein Äquivalent zum Querlesen; man kann das Zuhören selbst nicht beschleunigen (freilich kann man vorwärts skippen oder in der Mitte abbrechen). Aber man kann hören, während man andere Dinge tut; ein Buch oder eine Zeitschrift lesen oder im Internet surfen. Die Untiefen bei Carr beziehen sich auf die Oberflächlichkeit, mit der Musik oder Literatur beim Multitasking erfahrungsgemäß rezipiert werden, auf den blasseren Eindruck, den sie in unseren Köpfen und Herzen hinterlassen.
Die Umgestaltung von Zeit und Raum in der Internet-Ära schlägt sich auch in der Selbstwahrnehmung wieder, man fühlt sich ausgedehnt und vollgestopft. Der Dramatiker Richard Foreman gebrauchte das Bild von den »Pfannkuchen-Menschen«, um zu beschreiben, wie »breit und platt gewalzt« es sich anfühlt, »durch einen bloßen Mausklick mit dem gewaltigen Netzwerk aus Information verbunden zu sein«. Er stellt dem die reichhaltigen Tiefen eines gebildeten Selbsts gegenüber, das durch eine vorwiegend literarische Kultur geformt wurde, wo die Identität komplex und »kathedralen-artig« ist. Auch während ich hier vor dem Computer sitze, fühle ich mich gestresst und angespannt. Mein Selbst und der Bildschirm werden eins, die verschiedenen Seiten und Fenster, die gleichzeitig offen sind, führen zu einer »permanenten Teil-Aufmerksamkeit« – der Begriff wurde von der Microsoft-Managerin Linda Stone geprägt, um das zersplitterte Bewusstsein zu beschreiben, das durch das Multitasking entsteht. Die »Gegenwart«, die ich bewohne, fühlt sich ziemlich plattgewalzt an, ein Hier-und-Jetzt ist von unzähligen Pforten in ein Anderswo und Anderswann durchbohrt.
Vor einiger Zeit erfasste mich eine seltsam schmerzhafte Nostalgie nach Langeweile, einem Gefühl absoluter Leere, mit dem ich als Teenager, als Student oder als arbeitsloser Faulenzer in meinen frühen Zwanzigern so vertraut war. Diese große gähnende Kluft aus Zeit, die man mit wirklich gar nichts füllen konnte, war ein so intensives fast schon spirituelles Gefühl der Langeweile. Das war vor dem digitalen Zeitalter, als es in Großbritannien gerade einmal drei oder vier Fernsehsender gab, auf denen meist nichts lief; nur eine Handvoll gerade so erträglicher Radiosender; keine Videotheken oder Läden, in denen man DVDs kaufen konnte; kein E-Mail, keine Blogs, keine Webzines, keine sozialen Medien. Um die Langeweile zu vertreiben, verließ man sich auf Bücher, Zeitschriften, Platten, alles beschränkt auf das, was man sich leisten konnte. Man hat sich vielleicht auch ins Verderben gestürzt, in Drogen oder Kreativität geflüchtet. Es bestand eine kulturelle Ökonomie des Mangels und der Verzögerung. Als Musikfan wartete man, bis irgendetwas erschien oder gesendet wurde: ein Album, die Ausgaben der Weeklys, Peels Radiosendung um zehn Uhr abends, Top of the Pops am Donnerstag. Es gab lange Zeitspannen, die die Erwartungen schürten, und wenn man die Sendung, Peel oder ein Konzert verpasst hatte, dann waren sie unwiederbringlich verloren.
Heute verhält es sich mit der Langeweile anders. Sie ist mehr Übersättigung, Zerstreuung, Ruhelosigkeit. Ich langweile mich oft, aber das liegt nicht am fehlenden Angebot: tausende Fernsehsender, die Unerschöpflichkeit von Netflix, zahllose Internetradiosender, unzählige ungehörte Alben, ungesehene DVDs und ungelesene Bücher, das labyrinthische Archiv von YouTube. Bei der heutigen Langeweile geht es nicht um Hunger als Antwort auf die Entbehrungen; es geht um den Verlust des kulturellen Appetits als Reaktion auf die Übersättigung unserer Ansprüche bezüglich unserer Aufmerksamkeit und unserer Zeit.
WANN, WENN NICHT JETZT
In einer der berühmtesten Szenen aus Nicolas Roegs Film Der Mann, der vom Himmel fiel sieht man den von David Bowie verkörperten Außerirdischen Thomas Jerome Newton, wie er ein Dutzend übereinander gestapelter Fernseher gleichzeitig betrachtet. Dieses Bild eines hoch entwickelten Wesens, das in der Lage ist, all diese verschiedenen Daten simultan zu verarbeiten, erscheint mir ein passender Vergleich für die Entwicklung unserer Kultur. Am Ende des Films ist Newton auf der Erde gefangen, weil die Behörden ihn daran hindern, zu seiner Familie auf seinem Heimatplaneten zurückzukehren. Er wird Alkoholiker und Kultmusiker, der unter dem Namen The Visitor gespenstische Alben veröffentlicht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diese Musik tatsächlich zu hören bekommen; ich habe mir immer ausgemalt, dass sie wie die B-Seite von Low klingt, melancholische Schwaden eines an Satie erinnernden Sounds, kühl und zerfahren. Aber wie hätte Newtons Musik geklungen, wenn sie in irgendeiner Form den nicht mehr aufnahmefähigen Blick widergespiegelt hätte, mit dem er diese vielen Fernseher angesehen hat? Sie hätte vielleicht etwas von der Musik erahnen lassen, die in den letzten Jahren der 2000er produziert wurde, die an einem Syndrom leidet, das ich »übersättigt« nenne.
Die Musik der von Einflüssen übersatten Musiker klingt geradezu wie geronnen: Sie mag auf manchen Ebenen reichhaltig und beeindruckend sein, aber letztlich ist sie für die meisten Hörer ermüdend und verwirrend. Ganz akut tritt dieses Problem an den Hipster-Rändern der Musikproduktion auf: Frei von kommerziellen Erwägungen, die Musiker zu Zugänglichkeit und Einfachheit motivieren, können sie in den Info-Kosmos versponnener Musik abdriften, sie reisen gleichermaßen in abgelegene Bereiche der Geschichte wie in entfernte Ecken der Erde. Zwei aktuelle Beispiele dieser hyper-eklektischen Haltung sind Hudson Mohawkes Butter und Flying Lotus’ Cosmogramma von 2009 beziehungsweise 2010. Butter ist Prog-Rock, der für die Pro-Tool-Ära aktualisiert wurde, ein CGI-artiger Albtraum eines grellen und überladenen Sounds. Cosmogramma ist Hip-Hop-Jazz für die ADHS-Generation.
Wenn es Zeit braucht, bis man die Musik zu fassen bekommt, liegt das daran, dass in mancher Hinsicht zu viel Zeit hineingesteckt wurde. Zeit im Sinne von musikalischer Arbeit: Musiker, die in Heimstudios und mit Digital Audio Workstation arbeiten und keinerlei finanzielle Beschränkung ihrer Arbeitsstunden haben. Doch auch Zeit in einem kulturellen Sinne; jeder der musikalischen Stile, die diese Künstler digital miteinander verweben, steht für eine Tradition, die vor Jahrzehnten entstand und sich über Jahrzehnte entwickelt hat, das heißt, sie sind gewissermaßen eingebettete historische Zeit. Entsprechend verlangt es viele Stunden des aufmerksamen Hörens, um die Komplexität zu erfassen. Zeit, die die meisten Hörer heutzutage nicht haben.
Künstler und Hörer sitzen im selben Boot, und dieses Boot geht im »Meer der Möglichkeiten« unter, um eine Zen-buddhistische Redewendung zu gebrauchen. »Beschränkung ist die Mutter aller