Simon Reynolds

Sex Revolts


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aus einer spezifischen Perspektive – durch die Augen des Gender-Diskurses – und die hier präsentierten Ergebnisse entstehen aus dieser Perspektive heraus. Diese Herangehensweise bedeutet auch, dass viele wichtige oder einzigartige Figuren der Rockgeschichte nur flüchtig oder gar nicht vorkommen, einfach weil diese an Genderfragen orientierte Lesart zu keinen aufschlussreichen Erkenntnissen über sie geführt hat. Darum fehlen R.E.M., The Band, The Jam oder [hier eigenes Beispiel einfügen], obwohl sie wichtig, einflussreich oder auf andere Weise aufregend waren. Die Gender-Problematik findet sich einfach nicht im Kern dessen, was sie taten. Aus ähnlichen Gründen wird nicht jede wichtige Musikerin analysiert – es fehlt etwa Debbie Harry von Blondie, um nur ein Beispiel zu nennen –, weil wir uns auf Künstlerinnen konzentriert haben, bei deren Songs es sich um besonders aussagekräftige Darstellungen von Gender handelt.

      Den Fokus haben wir stark auf Lyrics und Image gelegt. Daneben spielen verbale wie textliche Statements von Musikerinnen und Musikern in Interviews und anderen Printtexten eine Rolle, insofern sie entweder Licht auf ihre Musik werfen oder ihre Einstellung und Weltanschauung offenlegen. Das Buch betrachtet auch die Musik selbst, dabei geht es uns aber nicht um eine musikwissenschaftliche Perspektive oder technische Aspekte (das läge außerhalb unserer Möglichkeiten), sondern darum, wie sich die Musik anfühlt, was für eine Stimmung sie erzeugt. Wir nutzen unsere eigenen körperlichen wie emotionalen Reaktionen als einen Weg, die Sehnsüchte, Aggressionen, Gelüste und Feindseligkeiten innerhalb der Musik zu verstehen. Dabei ist es egal, ob es gerade um The Stooges, U2, Can, Cocteau Twins, The Slits oder Rickie Lee Jones geht.

      Wenn es etwas an der Herangehensweise von Sex Revolts gibt, worauf wir immer noch stolz sind, dann, dass wir »männlich« als Gender behandeln statt als neutrale, einfach vorausgesetzte Perspektive. Viele glauben, dass feministische Rockkritik bedeutet, ein Buch über »Frauen in der Rockmusik« zu schreiben. Dass die ersten drei Fünftel von Sex Revolts sich mit männlichen Darstellungen von Maskulinität und Femininität auseinandersetzen, sorgte daher für einige überraschte Gesichter. Das Buch handelt von »Repräsentation« in einem ganz bestimmten Sinne des Wortes: Es geht um Images, Ideen, Stilmittel, Rollen, Gesten und Attitüden, um den Ausdruck von Sehnsucht, Furcht und Ekel. Es handelt nicht von Repräsentation im Sinne von Ungleichheit: Unterschiede, was die Stellung von Frauen in den Machtstrukturen der Musikindustrie angeht oder wie Künstlerinnen in der Musikpresse besprochen werden. Weder verfolgen wir den Kampf von Frauen in einem von Männern dominierten Markt, noch verbringen wir viel Zeit damit, gegen männliches Fehlverhalten und Missbrauch zu protestieren. Solche Geschichten gibt es ohne Ende, manche davon sind schon gut dokumentiert, anderen steht ihr Termin im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung noch bevor (Rock und Pop hatten ihr #MeToo noch nicht wirklich). Unser Fokus liegt auf unserem eigentlichen Thema: Ideologie und Affekt – Misogynie und Maskulinismus in den Lyrics (und verschlüsselt im Sound). Das, was im wirklichen Leben passierte, war für uns eher sekundär. Wo immer Macht und Ruhm existieren, gibt es Menschen, die ihre Position ausnutzen, und ein soziales Umfeld, das solches Verhalten nicht nur ermöglicht, sondern auch dabei hilft, es zu verdecken. Ein Blick auf die Geschichte der Unterhaltungsbranche genügt: Nicht selten legen Künstler, deren Werk sanft und romantisch ist, das schlimmste Verhalten an den Tag.

      Dennoch hat Sex Revolts – wie jedes Buch – seine blinden (oder tauben) Flecke, die wir heute anders angehen würden. Wir müssten uns dem Thema mit einem umfangreicheren Verständnis von Gender widmen. So breitgefächert, wie das Buch im Bezug auf Musik und künstlerischen Ausdruck auch ist, es beschränkt sich auf heterosexuelle Dynamik. Die Wahrheit ist: Wir fühlten uns nicht in der Lage, die geheime Geschichte von LGBTQ-Strömungen in der Rockgeschichte anzugehen. Diese müssten andere erzählen. 2018 jedoch, in einer Zeit also, in der der Diskurs über Transgeschlechtlichkeit und Gender-Nonkonformität so dringlich erscheint, bräuchte es eine gleichwertige Analyse des erweiterten Spektrums von sexueller Uneindeutigkeit und der Subversion von Identität. Tatsächlich beschäftigen wir uns im mittleren Teil des Buches mit Androgynie als ambivalentem Phänomen innerhalb heterosexueller Maskulinität. Sie ist gleichzeitig progressiv und befreiend, aber auch zügellos und »dekadent«. Heute würden wir uns sicherlich neue Gedanken über die Bedeutung von »Macha«-Tomboy-Persönlichkeiten wie denen von Suzi Quatro und Joan Jett machen, die sich als wegweisender herausgestellt haben, als wir in den frühen 1990ern annahmen.

      Ein anderer Aspekt, den wir noch einmal überdenken würden, ist die Art und Weise, wie Sex Revolts sich der allgemeinen feministischen Tendenz anschließt, das Patriarchat zu kritisieren, indem maskulinen Verhaltensweisen ihre Berechtigung abgesprochen wird. So entsteht eine Lücke, in der faktisch fast jeder Ausdruck von Männlichkeit aus diesem oder jenem Grund problematisch wird. Bedeutet das, dass es keine positiven Bilder maskuliner Stärke oder Energie geben kann? Wo in der Geschichte populärer Musik gibt es Bilder von Heroismus und Autorität, die berechtigt und inspirierend sind? Der aktuelle Ausbruch von Misogynie in der politischen Kultur kann nicht nur auf einen antifeministischen Backlash zurückgeführt werden. Er kommt auch aus der Verwirrung, der psychischen Not und Anomie junger Männer, die nicht wissen, wie sie sich innerhalb einer Kultur bewegen sollen, die der Zurschaustellung weiblicher Stärke und Größe (Beyoncé) applaudiert, männliche Heldenbilder aber größtenteils in die entgegengesetzten Welten von Gesetzeshütern und Gesetzlosen verschiebt.

      Der Großteil dieser Neuauflage von Sex Revolts entspricht dem Original von 1995. Ausnahmen sind Korrekturen einer vernachlässigbaren Anzahl an Fehlern, ein paar Änderungen hinsichtlich einiger Formulierungen, mit denen wir nicht mehr glücklich waren, und hie und da wurden ein paar Informationen hinzugefügt, die unsere Argumentation untermauern oder erweitern, ohne dass der Lesefluss darunter leiden würde.

      Das Kapitel »Critical Bias«, das wir 1995 gestrichen haben, wurde wieder eingefügt. Damals musste es einerseits aus Platzgründen weichen, aber auch, weil es sich mehr wie eine Zusammenfassung der Ideen anderer anfühlte und nicht wie eine Eigenleistung. Heute jedoch scheint es uns aus genau diesem Grund ein nützlicher Beitrag zum Buch zu sein: Es sieht sich verschiedene ideologische Stränge innerhalb des Musikjournalismus an, deren Auseinandersetzungen mit Bedeutung und Zweck von Musik oft selbst auf gegenderten Annahmen oder schlicht maskulinistischer Voreingenommenheit basieren. Auf gewisse Weise nimmt dieses Kapitel die Debatte von Rockismus vs. Poptimismus vorweg, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts von der damals neuen Blogosphäre aus bis in die New York Times wütete.

      Ein komplett neues Buch zu schreiben, das all die beeindruckenden Künstlerinnen (Missy Elliott, Beyoncé, Lady Gaga, Janelle Monáe, M.I.A., Nicki Minaj, Mica Levi, Grimes, Kesha und viele mehr) beinhaltet, die seit dem Erscheinen von Sex Revolts auf der Bildfläche erschienen sind, wäre eine Aufgabe, die wir im Moment nicht bewältigen könnten. Dasselbe gilt für eine Erweiterung der Kritik in den ersten beiden Teilen des Buches auf passende Künstler wie Odd Future, Animal Collective, Ariel Pink, Kanye West etc. Allerdings ist es erwähnenswert, dass nicht nur der Geist der Rockrebellion, sondern auch das Wort »Rockstar« selbst seit ein paar Jahren im HipHop eine neue Heimat gefunden haben: Future nennt sich selbst den »Future Hendrix«, Rae Sremmurds »Black Beatles« und Post Malones »Rockstar« waren beide auf Platz eins der Billboard-Charts. Im gegenwärtigen Rap – vor allem im Subgenre Trap – leben die Ungezähmtheit und der sich selbst glorifizierende Exzess des Classic Rock weiter (im Gegensatz zu moderner Gitarrenmusik, einer insgesamt ziemlich zahmen Angelegenheit). Leider geht diese aufregende Grandiosität auch mit dem alten rockistischen Rollenspiel aus Machotum und Misogynie einher.

      Viele der wichtigen Künstler – weiblich wie männlich –, die in den vergangenen 25 Jahren aufgetaucht sind, passen sehr gut in das Muster und die Kategorien von Sex Revolts. Zur Erweiterung haben wir darum eine Auswahl von Artikeln angefügt, die wir in den letzten zwei Dekaden über bestimmte Künstlerinnen und Künstler verfasst haben. Manche – wie Kathleen Hanna – kamen schon im ursprünglichen Buch vor, doch ihre Porträts gewinnen in diesen Artikeln an Tiefe und Schärfe. Andere Texte behandeln neue, aufstrebende Künstlerinnen und Künstler.

      Unser Dank gilt allen beim Ventil Verlag, unserem kompetenten und gewissenhaften Übersetzer Jan-Niklas Jäger, Christina Mohr dafür, dass sie den deutschen Lobgesang auf das Buch angeführt hat, und euch, den Leserinnen und Lesern.

       Joy Press und Simon Reynolds,