Jahrzehnte später tauchte die gleiche Metapher in »Dam That River« von Alice in Chains (Dirt, 1992) wieder auf, einem nasskalten Klagelied voller sexueller Vorahnung. Als metallischste der Seattle-Grunge-Bands setzen Alice in Chains auf den todgeweihten, massiven Blues von Black Sabbath und Led Zeppelin. Ihre Riffs klingen verhängnisvoll, wie Gliedmaßen, die angestrengt versuchen, sich nicht in den Pfuhl der Verzweiflung ziehen zu lassen. Das morbide »Them Bones« behauptet, dass wir ins Grab geboren werden. Die Band scheint den verzweifelten Glauben des Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline zu teilen, nach dem Menschen nichts anderes als ein Haufen vorübergehend »ausgesetzter Fäulnis« sind. Abjektion lauert auf Dirt überall: in der Paralyse der Drogenabhängigkeit (»Junkhead«, »Godsmack«), aber über allem in der »slow castration« der Liebe (»Rain When I Die«).
CASTRATION BLUES
Indem er die Streitlust von Punk mit der Verzweiflung von Heavy Rock kreuzte, wurde Grunge zum Sound des Kastrations-Blues. Grunge fasst sich nicht in den Schritt; er nutzt seine heavyness im Kampf gegen den eigenen Untergang. Nirvana sangen über politische und existenzielle Impotenz, darüber »neutered and spayed«4 zu werden. Ann Powers hat zwar behauptet, ihr Erfolg sei ein verzweifelter Versuch der Rock-Community gewesen, den Phallus wieder zu errichten (eine Rückkehr zu hartem, maskulinem, aggressivem Sound, zu Rock als Symbol jugendlicher Rebellion), doch viel wichtiger ist, dass es ein fehlgeschlagener Versuch war, der eher einer öffentlichen Zurschaustellung von Kastrationsnarben glich. Als Nirvana im Video zu »In Bloom« Frauenkleider trugen, machten sie sich nicht nur über den Hardrock-Maskulinismus im Grunge lustig. Sie stellten die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »punk« heraus: ein feminisierter, sexuell passiver Junge.
In Nirvanas Werk gibt es viele Hinweise auf einen Impuls, Männlichkeit zurückzuweisen und Zuflucht im Mutterleib zu suchen. Das Cover von Nevermind (1991) zeigt einen männlichen Säugling unter Wasser; vor ihm schwimmt ein Geldschein an einem Angelhaken – ein Versuch, ihn aus seinem amniotischen Paradies heraus in eine korrupte Welt zu locken. Der Titel des Nachfolgers von 1993 lautete dann schlicht In Utero. Dessen erste Single »Heart-Shaped Box« schwankt zwischen Nostalgie nach dem Uterus und Grauen vor sexueller/emotionaler Vereinigung. Cobain fleht darum, zurück in Sicherheit gebracht zu werden, mit seinem Kopf in einer »umbilical noose«, einer Schlinge aus Nabelschnur. Und er sehnt sich danach, in »your magnet tar-pit« – deine magnetische Teergrube – gesogen zu werden. Diese aufgeladene Bildsprache scheint seine gegensätzlichen Impulse zu dramatisieren. Auf der einen Seite die Sehnsucht, mit dem erstickenden Komfort der Domestizität zu brechen. Auf der anderen der Drang, auf eine Welt zu reagieren, in der Männlichkeit fast immer zu Abscheulichem führt und sich dieser Männlichkeit ganz zu entziehen – das Verlangen, infantilisiert und entmannt zu werden. Die Metaphern von »Heart-Shaped Box« erinnern auch an die gewaltige Bildsprache des Todes, wie sie sich in den Gedichten von Sylvia Plath und Anne Sexton finden lässt. (Sextons Gedicht »Wanting to Die« behauptet, dass gescheiterte Selbstmörder nie »a drug so sweet« voller »almost unnameable lust« vergessen würden.) Cobains Verlangen, sich vor der Welt in einem gefühlstauben Schutzraum zu verstecken, führte erst zu einer Heroinabhängigkeit und wurde dann zum vollkommen ausgeprägten Todeswunsch (eine Kapitulation gegenüber dem, was Freud übrigens »Nirwanaprinzip« nennt, eine Tendenz in allem organischen Leben, auf das niedrigstmögliche Level der Reizung zurückzukehren: Leblosigkeit). Am 5. April 1994 nahm sich Kurt Cobain das Leben.
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