Simon Reynolds

Sex Revolts


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war, der Sexualität ins Auge – jenem furchteinflößendem Gebiet, vor dem ihre Musik so lange geflohen war. Als der Junge von einst mit lüsternem Platschen auf der Erde aufschlägt, wird aus ihm ein Mann.

       FLIRTING WITH THE VOID: ABJEKTION IN DER ROCKMUSIK

      »[Schleim] ist eine weiche, weibliche Aktivität des Ansaugens, […] eine süße, weibliche Rache […]. Die Obszönität des weiblichen Geschlechtsorgans ist die alles Klaffenden.«

      Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts

      Der jugendliche Idealismus, der im stets streitenden und kämpfenden Rock steckt, ist der Versuch, die biologischen Realitäten der Adoleszenz zu überwinden: das hormonelle Chaos, neue Triebe, beunruhigende körperliche Veränderungen. Wenn Rockmusik wie Ikarus in erhabene, höhere Gefilde aufsteigt, etwa zu politischer Rechtschaffenheit und spiritueller Zerstreuung, ist das auch eine Flucht vor dem Tier im Menschen, ein Versuch, über den tiefen, feuchten Grund der Abjektion hinwegzufliegen.

      Der Begriff »abjekt« geht auf Julia Kristeva zurück und beschreibt schmierige Flüssigkeiten (Muttermilch, Sperma, Scheidensekret, Menstruation, Speichel, Schleim, Exkremente, Urin, Eiter), die die Grenzen zwischen dem, was zu uns gehört und was nicht, zwischen innen und außen verwischen. Sie sind weder flüssig noch fest, einzig schmutzig: Absonderungen, die ausgestoßen werden müssen, nicht nur um den Körper gesund und fit zu halten, sondern um ein starkes Ego aufrechtzuerhalten. Substanzen sind dann abjekt, wenn sie auf das zurückgehen, was Kristeva »maternalen Horror« nennt, jenen verschwommenen Zustand, aus dem heraus sich das instabile Selbstempfinden eines Säuglings langsam entwickelt.

      In Die Masken der Sexualität schreibt Camille Paglia über die »entwicklungsgeschichtlich bedingte Abscheu gegen Schleim«, den sie als Echo der Wahrnehmung des Mutterleibs als »fauligen Morast« deutet. Paglia geht davon aus, dass die westliche Kunst und Literatur sich zwischen dem Verschweigen von Mutter Naturs Flüssigkeit und der Konfrontation mit ihrer schrecklichen Macht mit dem Ziel eines rituellen Exorzismus bewegt. Beispiele für letzteres ziehen sich von der mythologischen Figur der Charybdis (ein Seeungeheuer der griechischen Mythologie) über den Ekel Jonathan Swifts in »The Lady’s Dressing Room« (»should I the Queen of Love refuse / because she rose from stinking ooze?«) bis zu Edgar Allan Poes Gothic-Horrorgeschichten, wie etwa »Descent into the Maelstrom« und Samuel Taylor Coleridges »The Ancient Mariner« (in dem sich, wie Paglia schreibt, »das offene Meer in eine Grabstätte der Verwesung« verwandelt, einen »dämonischen Mutterleib«).

      Auch Jean-Paul Sartre hatte, wie Margery L. Collins und Christine Pierce in ihrem Essay »Holes and Slime: Sexism in Sartre’s Psychoanalysis« beschreiben, ein höchst ambivalentes Verhältnis zum Fluiden und Femininen. In Das Sein und das Nichts schreckt der Philosoph vor furchteinflößendem, weichem und klebrigem Schleim zurück, den er »trotz seiner Fügsamkeit als bedrohlich« wahrnimmt. Während des Geschlechtsverkehrs wird der Phallus von der Vagina »bedroht«. Sartre beschrieb das weibliche Geschlechtsteil als gierigen »Mund, der den Penis verschlingt. […] Der Koitus ist Kastration des Mannes – aber das [weibliche] Sexualorgan ist vor allem ein Loch.« Dem freudianischen Psychoanalytiker Sándor Ferenczi zufolge wird der männliche Geschlechtstrieb jedoch von einem Verlangen nach Rückkehr in die uterine Höhle vorangetrieben, die Sartre so sehr fürchtete. Für Ferenczi bedeutet der ozeanische Mystizismus der Menschheit nicht mehr als einen Ausdruck dieser primitiven Sehnsucht nach dem Mutterleib.

      Im Ozean der Liebe zu ertrinken, ist gleichzeitig das tiefste Verlangen und die größte Furcht des Mannes. Daher führen Körperflüssigkeiten genauso sehr zu Freude wie sie Furcht auslösen – weil sie das verlorene inzestuöse Paradies der frühen Kindheit wieder aufleben lassen. Das Inzestverbot wirkt identitätsstiftend, indem es die Symbiose von Kind und Mutter beendet. Inzest bedeutet sowohl eine furchtbare, identitätszerschmetternde Regression als auch die Erfüllung einer tiefen Hoffnung. Dionysos, der Gott der Ich-Entgrenzung und Intoxikation, ist der archetypische Rebell, der sich gegen das Inzesttabu auflehnt – als auch mit Flüssigkeiten in Verbindung gebracht wird (Blut, Saft, Wein, Milch, Sperma). Dionysische Kunst löst Formen und Linearität auf, kokettiert mit Chaos und Desorientierung. Auf ähnliche Weise dreht sich die dionysische Rock-Tradition um den Flirt mit dem Abjekten. Es geht darum, am Abgrund zu leben, auf der Schwelle des Nichts zu balancieren, über dem Ursumpf der Strukturlosigkeit. Wann immer die Kraft von Dionysos’ vitalem, maskulinen Stoß nachlässt, tut sich die Gefahr des Sumpfes auf.

      Das zweite Stooges-Album Fun House (1970) folgt einem ähnlichen Muster. Die erste Seite ist strukturiert wie das sexuelle Abenteuer eines Mannes, vom Raubzug (»Down on the Streets«) über brutalen Geschlechtsverkehr (»Loose«) bis zu explosiver Erleichterung (»TV Eye«) und einem kribbelnden, versiegenden Nachspiel (»Dirt«). Hier klingt Iggy Pop verbraucht. Auf der zweiten Seite zeichnet »Fun House« den Exzess von sex, drugs and Rock ’n’ Roll als urzeitlichen Laufstall; viel zu lange schlägt er vor: »we’ve been separated«, aber lass uns jetzt im Urschlamm wühlen. Die Musik rast auf uns zu wie eine bombastische Lawine lauter Gitarren, die durch ein Free-Jazz-Saxophon, das jammert und kreischt wie ein Neugeborenes, noch mehr an Fahrt gewinnt. (Lange schon hatte Iggy Pop infantile Gesten in seinem Bühnenrepertoire, etwa wenn er seinen Daumen lutscht oder sich in den Schritt greift und dann an seiner Hand riecht.)