C. Otto Scharmer

Essentials der Theorie U


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von Theorie U sagen würden: ein System dazu bringen, sich selbst zu erspüren und zu sehen.

       Abb. 3a: Das System »da draußen« sehen (eigene Darstellung nach Gradert)

       Abb. 3b: Den Beobachtungsstrahl umbiegen, um das System und das eigene Selbst zu sehen (eigene Darstellung nach Gradert)

      Wenn du dich mit Veränderungsmanagement beschäftigst, weißt du, dass die Hauptaufgabe in einem solchen Prozess darin besteht, den Menschen zu helfen, den Schritt von einer »Silosicht« zu einer systemischen Sicht – oder wie wir sagen würden: vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein – der betreffenden Problemlage zu vollziehen.

      Was mich am meisten überrascht, ist der Umstand, wie zuverlässig wir Bedingungen schaffen können, die eine solche Art der Umwendung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins möglich machen. Man kann diese paradigmatische Veränderung nicht erzwingen. Man kann die soziale Realität nicht biegen wie ein Stück Metall, indem man von außen darauf einhämmert. Aber man kann einige innere und äußere Bedingungen schaffen, die es einer Gruppe, Organisation oder einem System erlauben, sich von der Warte des größeren Ganzen aus zu erspüren und zu sehen.

      Ich werde oft gefragt: Wie bist du eigentlich auf die Idee mit dem U-Konzept gekommen? Wo liegen die Ursprünge dieser Idee? In diesem Kapitel beschreibe ich Erfahrungen und Überlegungen, die die Ursprünge von Theorie U beleuchten. Alle zitierten Interviews finden sich auf der Website des Presencing Institute unter Dialogue on Leadership (www.presencing.org).

       Ein Moment des Sehens

      Kurz nachdem ich 1994 ans MIT gekommen war, sah ich eine von Peter Senge und Richard Ross, dem Mitautor von Das Fieldbook zur fünften Disziplin, moderierte Live-Videopräsentation zum Thema organisationales Lernen. Nach einer Frage aus dem Publikum ging Richard Ross zur Tafel und skizzierte das »Eisbergmodell« des Systemdenkens mit folgenden Worten:

       Struktur

       Prozess

       Denkmodelle

      Als ich diese Worte sah, wurden mir zwei Dinge klar. Zum einen, dass alle organisationale und soziale Veränderung auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Zum anderen, dass es unter den drei auf der Tafel skizzierten Ebenen noch eine vierte Ebene geben muss. Als ich die drei Worte niederschrieb, fügte ich spontan eine vierte Ebene hinzu, die die Quelle repräsentiert. Später bezeichnete ich diese Ebene als »Presencing«.

      Kurz darauf verband ich diese vier Ebenen mit dem Erscheinungsbild des Buchstaben U: Man bewegt sich auf der linken Seite des U von der Oberfläche her zum Quellpunkt und unterscheidet dabei Wahrnehmungsebenen (Projektion alter Muster, Wahrnehmung eines Gegenstandes, Wahrnehmung meines Wahrnehmungsprozesses, Intuition: Wahrnehmung und Erschließung der tieferen Quellen), und dann bewegt man sich auf der rechten Seite des U hinauf und passiert die korrespondierenden Handlungsebenen (vergegenwärtigen [envisioning], erproben [enacting], verkörpern [embodying]).

      Weshalb habe ich die U-Form verwendet? Erstens wollte ich einen Prozess beschreiben, der die vier Systemebenen des Eisbergs zutage fördert. Zweitens hatte ich Jahre zuvor an zwei Stellen eine andere U-Version gesehen. Eine fand sich in der Arbeit von Friedrich Glasl, dem österreichischen Kollegen und Experten für Organisationsentwicklung und Konfliktlösung. Er benutzt in seinem Modell das U dafür, die Ebenen von Identität, Mensch und Politik zu unterscheiden vom technisch-materiellen Bereich von Organisationen. Die andere Stelle, an der das U ein Entwicklungsprinzip beschreibt, fand ich in der Arbeit des Pädagogen und sozialen Innovators des frühen 20. Jahrhunderts Rudolf Steiner. Seine Schriften waren nicht nur für mich die entscheidende Inspirationsquelle, sondern auch für Glasl. Wenn man also jemandem die Entstehung vom U-Prozess des evolutionären Denkens zuschreiben wollte, sollte dies Rudolf Steiner sein. Als radikaler sozialer Erneuerer hat Steiner einen nachhaltigen Einfluss; zu seinen institutionellen Erneuerungen zählen Waldorf-Pädagogik, biodynamische Landwirtschaft, anthroposophisch-ganzheitliche Medizin, Phänomenologie und ein innerer meditativer Weg der menschlichen Entwicklung.

       Der Prozess: Drei Bewegungen

      Viereinhalb Jahre später. Anfang 1999 reiste ich mit meinem guten Freund und Kollegen Joseph Jaworski, dem Autor von Synchronizität: Der innere Weg von Führung, nach Xerox PARC im kalifornischen Palo Alto, einem Forschungszentrum im Herzen von Silicon Valley. Es ist ein Ort, der einmal ein Team beherbergte, das viele auch heute noch für eines der kreativsten Teams aller Zeiten halten. Dieses Team entwickelte unter anderem den Laserdruck, das Ethernet, den modernen Personal-Computer, die grafische Benutzeroberfläche und andere Schlüsselprodukte für das, was später zu einer Milliardenindustrie wurde. Paradoxerweise konnte das Mutterunternehmen Xerox aus diesen Erfindungen nie Kapital schlagen. Aber jemand anderes tat dies: Steve Jobs. Der Aufstieg von Apple basierte im Grunde darauf, dass er sämtliche Schlüsselideen, die er bei Xerox PARC sah, zusammenfügte. Aber zurück zu unserem Treffen.

      Wir trafen W. Brian Arthur, der das Ökonomieprogramm am Santa Fe Institute ins Leben gerufen und ein Büro bei PARC hatte. Er sprach über die sich wandelnden ökonomischen Grundlagen der heutigen Geschäftswelt. »Wisst Ihr«, sagte er, »die eigentliche Kraft kommt aus dem Erkennen von Mustern, die sich bilden und sich in diese Grundlagen einfügen.«

      Dann sprach er von zwei verschiedenen Ebenen des Erkennens. »Meistens kommt man in seinem Denken mit der üblichen Art des Erkennens weiter. Aber es gibt noch eine tiefere Ebene. Ich nenne diese tiefere Ebene ein inneres oder intuitives Wissen. Angenommen, ich springe mit einem Fallschirm über Silicon Valley ab. Plötzlich bin ich mit einer komplizierten dynamischen Situation konfrontiert, und meine Aufgabe ist, sie zu verstehen. Was würde ich tun? Ich würde beobachten und beobachten und wieder beobachten, dann würde ich mich zurückziehen. Mit etwas Glück könnte ich dann einen inneren Ort in mir finden, an dem ich verstehe, was als Nächstes zu tun ist.«

      Brian Arthur fuhr fort: »Du wartest und wartest und lässt deine Erfahrung sich mit der Situation verbinden. In gewisser Weise gibt es kein Entscheiden. Das, was zu tun ist, wird offensichtlich. Du kannst es nicht beschleunigen. Viel hängt davon ab, woher du innerlich kommst und wer du bist, als Mensch. Hieraus ergeben sich viele Implikationen für das Management. Was ich meine, ist, dass das, was zählt, davon abhängt, was in dir selber lebt, woher du tief drinnen in dir selbst kommst.«

      Was er sagte, war zutiefst in Einklang mit dem, was Bill O’Brien und viele andere Erneuerer uns früher schon gesagt hatten. Führungskräfte müssen sich mit ihrem blinden Fleck auseinandersetzen und ihre Aufmerksamkeit auf den inneren Ort lenken, von dem aus sie handeln. Dieses Gespräch mit Brian Arthur hatte uns zwei wesentliche Erkenntnisse geliefert. Die erste ist, dass es unterschiedliche Formen von Erkenntnis gibt: eine normale Ebene (mentale Bezugssysteme herunterladen) und eine tiefere Ebene des Wissens. Zweitens muss man, um diese tiefere Ebene des Wissens aktivieren zu können, einen dreistufigen Prozess durchlaufen, ähnlich dem von Brian Arthur genannten Fallschirmbeispiel:

      •Beobachte, beobachte, beobachte: Verbinde dich mit den Orten relevanter Potenzialentwicklung.

      •Suche einen Ort der Stille auf: Lasse das innere Wissen entstehen.

      •Erkunde die Zukunft im Tun [prototyping]: Handle aus dem heraus, was im Hier und Jetzt entsteht.

      Auf dem Rückflug mit Joseph Jaworski malte ich eine U-Figur auf ein Stück Papier, um die drei Bewegungen zu visualisieren, von denen Brian