elementar. Nämlich: Es gibt zwei unterschiedliche Quellen des Lernens: (1) Lernen, indem man über die Vergangenheit nachdenkt, und (2) Lernen, indem man entstehende Zukunftsmöglichkeiten erspürt und verwirklicht.
Alle herkömmlichen Methoden des organisationalen Lernens funktionieren nach demselben Lernmodell: Lernen, indem man über frühere Erfahrungen nachdenkt. Doch dann stellte ich immer wieder fest, dass in Organisationen die meisten Führungskräfte täglich mit Herausforderungen konfrontiert waren, denen man nicht einfach dadurch begegnen kann, dass man über die Vergangenheit nachdenkt. Manchmal sind früh gemachte Erfahrungen nicht hilfreich und stellen vielleicht sogar die Hindernisse dafür dar, dass ein Team eine Situation nicht mit neuen Augen sehen kann.
Anders ausgedrückt: Aus der Vergangenheit lernen ist notwendig, aber nicht hinreichend. Alle umwälzenden Herausforderungen verlangen, dass wir uns der Sache mit einer neuen Herangehensweise nähern. Sie verlangen, dass wir uns entschleunigen, innehalten, die wichtigen Antriebskräfte der Veränderung erspüren, die Vergangenheit loslassen und die Zukunft, die entstehen möchte, kommen lassen.
Aber was ist notwendig, um von der im Entstehen begriffenen Zukunft zu lernen? Als ich diese Frage stellte, schauten mich viele Menschen mit einem ausdruckslosen Blick an: »Von der Zukunft lernen? Wovon sprechen Sie?« Viele meinten, es sei eine verschrobene Frage.
Doch es war genau diese Frage, an der sich meine Forschungsreise über mehr als 20 Jahre lang orientiert hat. Das Besondere an uns Menschen ist, dass wir uns mit einer entstehenden Zukunft in Verbindung setzen können. Genau das zeichnet uns als Menschen aus. Wir können die Muster der Vergangenheit sehen, durchbrechen und neue Muster schaffen. Keine andere Spezies auf der Erde ist dazu imstande. Bienen beispielsweise organisieren sich vielleicht mit einer höheren kollektiven Intelligenz; aber sie haben keine Möglichkeit, ihr Organisationsmuster zu ändern. Wir als Menschen sind dazu aber in der Lage.
Man kann es auch anders formulieren. Wir haben die Gabe, in zwei sehr unterschiedliche Zeitqualitäten und Zeitströme einzutauchen und uns in ihnen zu bewegen. Da ist zum einen die Qualität der Gegenwart, die sich als Verlängerung der Vergangenheit konstituiert. Der gegenwärtige Augenblick bestimmt sich aus dem, was gewesen ist. Da ist zum anderen die Qualität des gegenwärtigen Erlebens, das sich als Öffnung zu einem Feld zukünftiger Möglichkeit konstituiert. Der gegenwärtige Augenblick ist geprägt von dem, was anwesend werden möchte: die Gegenwart als Ankunftsgeschehen. Diese tiefere Zeitqualität, wenn wir uns ihr gegenüber öffnen, ist das Feld, in dem wir Presencing erleben können: das Erspüren und Vergegenwärtigen des höchsten zukünftigen Potenzials. Der Begriff Presencing ist eine Kombination aus »sensing« (erspüren) und »presence« (Gegenwart). Er bedeutet, sein höchstes Zukunftspotenzial zu erspüren und umzusetzen. Wann immer wir es mit Umbrüchen zu tun haben, ist es dieser zweite, aus der Zukunft entgegenlaufende Zeitstrom, der uns erlaubt, neue Impulse in die Welt zu setzen. Denn ohne eine solche Verbindung zur entstehenden Zukunft tendieren wir am Ende dazu, zu Opfern, statt zu Mitgestaltern von Umbrüchen zu werden.
Wie können wir uns als Individuen, Organisationen und als Ökosysteme mit diesem zweiten Zeitstrom in Verbindung bringen? An dieser Frage hat sich mein Forschungsweg in den letzten 20 Jahren orientiert. Das Ergebnis ist die Beschreibung eines tieferen Lernzyklus, der nach einer anderen Form von Prozess funktioniert, einem, der uns zu den Rändern des jeweiligen Systems führt, uns mit unseren tieferen Quellen von Wissen verbindet und uns dazu ermuntert, die Zukunft durch praktisches Handeln zu erkunden. Dieser tiefere Lernzyklus trifft sowohl auf unser Berufsleben als auch auf unser persönliches Leben zu. Als 16-Jähriger hatte ich beispielsweise ein Erlebnis, das mir einen Vorgeschmack davon gegeben hat, wie es aussieht und sich anfühlt, wenn man aus dem Feld des gewohnheitsmäßigen Handelns herausgerissen wird.
Im Anblick des Feuers
Als ich an jenem Morgen unseren Bauernhof verließ, um zur Schule zu gehen, hatte ich keine Ahnung, dass ich mein Elternhaus zum letzten Mal sehen würde, einen großen, 350 Jahre alten Bauernhof. Es war ein ganz gewöhnlicher Schultag, bis etwa ein Uhr, als der Lehrer mich aus der Klasse rief und sagte, ich solle nach Hause gehen. Ich hatte keine Ahnung, was passiert sein könnte, hatte aber das Gefühl, dass es nichts Gutes war. Nach der üblichen einstündigen Zugfahrt rannte ich zum Bahnhofsausgang und warf mich in ein Taxi. Noch lange, bevor das Taxi auf unserem Hof ankam, sah ich riesige graue und schwarze Rauchwolken. Mein Herz klopfte, als sich das Taxi unserer langen Hofeinfahrt näherte. Ich erkannte Nachbarn, Feuerwehrleute und Polizisten. Ich sprang aus dem Taxi und rannte durch die Menge, die sich versammelt hatte, den letzten halben Kilometer unserer kastaniengesäumten Einfahrt hinauf. Als ich den Hof erreichte, traute ich meinen Augen nicht. Die Welt, in der ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, war verschwunden. In Flammen und Rauch aufgegangen.
Als die Wirklichkeit des vor mir lodernden Feuers mir so langsam ins Bewusstsein drang, hatte ich das Gefühl, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Der Ort meiner Geburt, meiner Kindheit und Jugend war weg. Als ich dort stand, die Hitze des Feuers in mir aufnahm und spürte, wie sich die Zeit verlangsamte, erkannte ich, wie verbunden ich mit all den Dingen gewesen war, die das Feuer nun zerstörte. Alles, von dem ich dachte, das sei ich, war entschwunden. Alles? Nein, vielleicht nicht alles; denn ich spürte, dass ein winziger Teil meines Selbst noch am Leben war. Jemand war noch da, der dies alles beobachtete. Wer?
In diesem Moment wurde mir klar, dass es von meinem Selbst noch eine andere Dimension gab, die ich zuvor nicht gekannt hatte, eine Dimension, die mit dem Sehenden und seinen Zukunftsmöglichkeiten zusammenhing. In diesem Augenblick fühlte ich mich hochgehoben, ein wenig aufwärts über meinen physischen Körper hinaus, und begann, die Szenerie von diesem Ort aus zu beobachten. Ich spürte, wie sich meine Gedanken- und Wahrnehmungswelt verlangsamte, beruhigte und erweiterte. Ich merkte, dass ich gar nicht die Person war, die zu sein ich geglaubt hatte. Mein wirkliches Selbst war nicht mit dem materiellen Besitz verbunden, der gerade in den Trümmern verglühte. Ich wusste plötzlich, dass ich, mein wahres Selbst, noch am Leben war! Ich war dieses »Ich«, das der Seher war. Und dieser Seher war lebendiger, wacher, wesentlich präsenter als das »Ich«, welches ich zuvor gekannt hatte. Nicht mehr belastet durch die materiellen Beitztümer, die das Feuer gerade verschlungen hatte und von denen nichts mehr übrig war, fühlte ich mich leichter und frei, dem anderen Teil meines Selbst zu begegnen, dem Teil, der mich in die Zukunft zog – in meine Zukunft – in eine Welt, die darauf wartete, dass ich sie Wirklichkeit werden lasse.
Am Tag darauf kam mein 87-jähriger Großvater auf den Hof, was sein letzter Besuch dort werden sollte. Er hatte seit 1890 sein ganzes Leben auf dem Hof verbracht. Weil er sich einer ärztlichen Behandlung unterziehen musste, war er die Woche vor dem Feuer weg gewesen, und als er am Tag nach dem Feuer auf den Hof kam, sammelte er seine letzten Kräfte, stieg aus dem Auto aus und ging direkt zu der Stelle, wo mein Vater mit dem Aufräumen beschäftigt war. Ohne dass er die kleinen Feuer, die immer noch um das Anwesen herum brannten, zu bemerken schien, ging er auf meinen Vater zu, nahm seine Hand und sagte: »Kopf hoch, mein Junge, blick nach vorn!« Dann sagte er noch irgendetwas, drehte sich um, ging zurück zu dem wartenden Auto und verschwand. Wenige Tage später starb er friedlich.
Dass mein Großvater in der letzten Woche seines Lebens imstande war – nachdem so viel von dem, was er sein ganzes Leben lang bewirtschaftet hatte, in Flammen aufgegangen war –, sich auf die entstehende Zukunft zu konzentrieren, statt auf den Verlust der Vergangenheit zu reagieren, machte einen großen Eindruck auf mich.
Erst viele Jahre später, nachdem ich damit angefangen hatte, mich mit der Frage zu befassen, wie sich von einer entstehenden Zukunft statt von der Vergangenheit her lernen lässt, begann ich mit meiner, wie ich heute denke, wichtigsten Arbeit. Doch der Keim dafür lag in dieser frühen Erfahrung.
Das Gefäß bilden
»Ich hasse es, wenn jemand sagt, ›es gibt zwei Arten von Menschen‹«, sagte Edgar Schein, mein Mentor am MIT, eines Tages zu mir. Dann fuhr er mit einem Anflug von Lächeln fort: »Aber