Suizid – eine Zahl, die größer ist als die Summe aller Menschen, die durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen getötet werden. Alle 40 Sekunden ereignet sich ein Suizid.
Im Wesentlichen erzeugen wir kollektiv Ergebnisse, die (fast) niemand wünscht. Zu diesen Resultaten zählen die Zerstörung der Natur, der Verlust von Gesellschaft und der Verlust des eigenen Selbst.
Im 19. Jahrhundert war die öffentliche Diskussion vielerorts auf die Entstehung der sozialen Kluft fokussiert. Im 20. Jahrhundert erlebten wir die Entstehung der ökologischen Kluft, vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts. Auch sie hat unser öffentliches Bewusstsein geprägt.
Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir die Entstehung einer spirituellen Kluft. Angefacht durch die massiven technologischen Umbrüche, die wir seit der Geburt des WorldWideWeb in den 1990er-Jahren beobachten, wird bis 2050 etwa die Hälfte unserer Arbeitsplätze aufgrund von technischen Entwicklungen wegfallen. Wir sind mit einer Zukunft konfrontiert, die »uns nicht mehr braucht«, um mit den Worten des Informatikers und Mitbegründers von Sun Microsystems, Bill Joy, zu sprechen, und die uns ihrerseits zwingt, unser Menschsein neu zu definieren und zu entscheiden, in welcher Art von Gesellschaft wir zukünftig leben und wie wir diese gestalten wollen. Bewegen wir uns nach den vielfältigen Gewaltherrschaften, wie wir sie im 20. Jahrhundert gesehen haben, jetzt auf eine Tyrannei der Technologie zu? Das ist eine der Fragen, auf die wir treffen, wenn wir in den oben beschriebenen Abgrund blicken.
Mit anderen Worten: Wir leben in einer Zeit, in der unser Planet, unser gesellschaftliches Ganzes und der Wesenskern unserer Menschlichkeit angegriffen werden. Das mag vielleicht etwas dramatisch klingen, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Beschreibung die Bedeutung des historischen Augenblicks, in dem wir leben, sogar noch untertrieben ist.
Wo gibt es Hoffnung? Die größte Quelle der Hoffnung liegt darin, dass immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, erkennen, dass die drei Abgründe keine voneinander getrennten Probleme sind. Sie sind eigentlich verschiedene Symptome und Spielarten von ein und demselben Grundproblem. Welches Problem ist das? Der blinde Fleck.
Der blinde Fleck
Den blinden Fleck gibt es im Kontext von Führung, Management und sozialem Wandel. Es ist ein blinder Fleck, der auch unser alltägliches soziales Erleben betrifft. Der blinde Fleck bezieht sich auf den inneren Ort – die Quelle –, aus der unser Wirken hervorgeht, wenn wir handeln, kommunizieren, wahrnehmen oder denken. Wir sehen, was wir tun (Resultate). Wir sehen, wie wir es tun (Prozess). Aber meistens wissen wir nichts über das Woher: über den inneren Ort bzw. die Quelle, aus der unser Wirken entspringt (Abb. 2).
Abb. 2: Der blinde Fleck von Führung
Dem blinden Fleck begegnete ich zum ersten Mal, als ich mit Bill O’Brien, dem langjährigen CEO von Hanover Insurance, sprach. Seine Erkenntnis aus vielen Jahren transformativer Veränderungsprozesse in seinem Unternehmen fasste er wie folgt zusammen: »Der Erfolg einer Intervention hängt vom inneren Zustand des Intervenierenden ab.«
O’Briens Feststellung öffnete mir die Augen: Was zählt, ist nicht nur das, was eine Führungskraft tut und wie sie es tut, sondern auch ihr »innerer Zustand« – d. h. ihre innere Quelle.
Es dämmerte mir, dass Bill O’Brien auf eine tiefere Dimension (die Quelle) hinwies, aus der unsere Handlungen, Kommunikation und Wahrnehmungen hervorgehen und die es uns erlaubt, einen neuen Raum zukünftiger Möglichkeiten zu erspüren und zu beschreiben.
Die Qualität unserer Aufmerksamkeit ist eine weitgehend unsichtbare Dimension unseres alltäglichen sozialen Erlebens – ob in Organisationen, Institutionen oder auch im persönlichen Leben. In unserem alltäglichen Handeln wissen wir meistens sehr wohl, was wir tun und wie wir es tun – d. h., wir kennen den Prozess. Stellt man uns aber die Frage, woher unser Handeln kommt, könnten die meisten von uns keine klare Antwort darauf geben. In meinen Forschungen bezeichne ich diesen Ursprung unseres Handelns und unserer Wahrnehmungen als Quelle oder Quellpunkt.
Vor der leeren Leinwand
In meinem Gespräch mit Bill O’Brien wurde mir klar, dass wir Tag für Tag sowohl auf sichtbaren als auch auf unsichtbaren Ebenen interagieren. Um diesen Punkt besser zu verstehen, sollten wir die Arbeit eines Künstlers betrachten.
Kunst lässt sich aus mindestens drei Perspektiven betrachten:
•Wir können uns auf den Gegenstand konzentrieren, der in dem kreativen Prozess entstanden ist – beispielsweise ein Gemälde.
•Wir können uns auf den Prozess konzentrieren, also beobachten, wie die Künstlerin das Bild malt.
•Oder wir können die Künstlerin in dem Augenblick beobachten, wenn sie vor der leeren Leinwand steht.
Anders ausgedrückt: Wir können das Kunstwerk betrachten, nachdem es geschaffen wurde, während es entsteht oder bevor es entsteht.
Wenn wir diese Analogie auf Veränderungsmanagement anwenden, können wir die Arbeit des Erfinders, des Veränderungsmachers, der Führungskraft aus drei ähnlichen Blickwinkeln betrachten. Erstens können wir anschauen, was Führungskräfte und Menschen, die etwas verändern möchten, tun. Aus dieser Perspektive sind schon viele Bücher geschrieben worden. Zweitens können wir anschauen, wie eine Führungskraft vorgeht, d. h., welche Prozesse sie aktiviert. Aus dieser Prozess-Perspektive wurden in den letzten 20 Jahren Bücher über Management und Führung geschrieben.
Doch aus der Perspektive der leeren Leinwand haben wir die Führung nie systematisch betrachtet. Die bisher nicht beantwortete Frage lautet: Aus welchen Quellen entsteht das Handeln von Führungskräften und Veränderungsmachern? Zum Beispiel: Welche Qualität des Zuhörens, welche Qualität der Aufmerksamkeit bringe ich in eine Situation ein und wie verändert diese Qualität die Muster der Interaktion?
Die Diskussion über die drei Abgründe lässt sich so zusammenfassen: Während die ökologische Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und Natur und die soziale Kluft eine Bruchlinie zwischen Selbst und dem Anderen darstellt, erwächst die spirituelle Kluft aus einem Bruch zwischen dem Selbst und dem Höheren Selbst – das heißt zwischen dem, der ich heute bin, und dem, der ich morgen sein könnte, also meiner höchsten Zukunftsmöglichkeit.
Ankunft am MIT
Als ich vor etwa 24 Jahren aus Deutschland kam, um am MIT zu arbeiten, wollte ich lernen, wie ich Menschen, die in der Gesellschaft etwas verändern möchten, helfen könnte, die großen Herausforderungen und Umbrüche zu bewältigen, auf die wir immer wieder treffen. An dem damals neu gegründeten MIT Organisational Learning Center (OLC), das von Peter Senge, dem Autor von Die fünfte Disziplin, geleitet wurde, kam eine einzigartige Konstellation führender Vertreter der Aktionsforschung aus dem MIT und von der Harvard University zustande, darunter Edgar Schein, Chris Argyris, Don Schön, William Isaacs und viele andere. Dieses Buch ist stark geprägt und inspiriert von der Chance, in diesem Netzwerk und wunderbaren Kollegen- und Freundeskreis wie auch zusammen mit vielen anderen geschätzten Mitarbeitenden aus anderen Institutionen und anderen Orten arbeiten zu dürfen.
Wenn ich heute auf meinen Weg zurückblicke, fallen mir drei wichtige Erkenntnisse auf, die meinem Vorhaben, den blinden Fleck zu erforschen, Gestalt gegeben haben.
Von der im Entstehen