– lässt sich sogar bildgebend verfolgen. Ungefähr im Alter von zwölf Jahren hat das kindliche Gehirn von der Größe, dem Faltungsmuster, dem Gewicht und der regionalen Spezialisierung den Status eines Erwachsenen erreicht.
Kognitiv allerdings sind sie noch nicht auf dem Niveau. In einer groß angelegten Arbeit überprüfte das National Institute of Mental Health in Bethesda, es gehört zum US-Gesundheitsministerium, 2.000 Jugendliche vom 3. bis zum 25. Lebensjahr. Alle zwei Jahre wurde an ihnen ein Gehirnscan vorgenommen. Die Arbeit verwendete eine Magnetresonanzmethodik (MRI), um den Wasser-Fett-Gehalt im Gehirn zu dokumentieren. Im Gehirn besteht die graue Substanz vor allem aus wasserreichen Nervenzellen, während die weiße Substanz Fette beinhaltet, die die einzelnen Nerven voneinander isolieren, das Myelin. Myelin ist das griechische Wort für Gehirn. Im Hirn eine Biomembran, reich an Nervenfasern.
Die Untersuchung brachte überraschende Erfolge. Sie zeigte, dass die graue Substanz zunächst in der Kindheit stark zunimmt, dann sich wieder zu verdünnen beginnt. Wobei diese Welle im Hinterhirn beginnt und bis zum frühen Erwachsenenalter anhält. Dieser Prozess läuft bei Mädchen schneller ab als bei Buben und wird mit dem »Waking-up«-Schritt in Zusammenhang gebracht; Mädchen erreichen wesentlich früher die Reife des Erwachsenenalters. Je schneller diese Welle vorangeht – und das scheint ein interessantes Nebenprodukt dieser Untersuchung zu sein –, umso höher ist die Intelligenz.
Diese Zeit der frühen Adoleszenz, die mit dem dritten epigenetischen Prägefenster zusammenfällt, entscheidet über Wichtiges im weiteren Leben: die synaptische Vernetzung und die Auswahl der Nerven. Welche gebrauchten verwendet und welche nicht gebrauchten man eliminiert. Die Stimulierung von außen scheint so an der Gehirnentwicklung entscheidend beteiligt zu sein.
Der Spruch »Use it or lose it« gilt in besonderer Weise für das Oberstübchen. Wird in dieser Lebensphase das heranreifende Gehirn angehalten, schwierige Situationen zu meistern und Konflikte zu lösen, bleibt ihm diese Begabung für das spätere Leben.
Der US-Neurowissenschaftler Jay Giedd, der diese Untersuchung leitete, schließt daraus, dass in dieser Lebensphase die Begegnung des Kindes mit Musik, Eindrücke durch Reisen, fremde Sprachen, aber auch die sportliche Balance von enormer Wichtigkeit sind. Das Gleiche gilt für Konfliktlösungsmodelle, die das Kind in diesen Lebensphasen erlernt und sich dabei an Prägedarstellungen in elektronischen Medien orientiert. Im Alter scheint wiederum eine zunehmende Myelinisierung wichtig zu sein. Sie ermöglicht, dass Nervensignale schneller weitergegeben werden und die Zeit zwischen zwei neuronalen Impulsen kürzer wird. Deswegen verlangt Weisheit ein Maximum an Myelinisierung. Das ist jener Prozess, bei dem Axome mit einer Myelinschicht umhüllt werden. Gewissermaßen das Motoröl für den Denksport.
Die molekulare Neurologie hat demnach eindrucksvolle Beispiele geliefert, wie plastisch und formbar unser Gehirn ist. Und wie nachhaltig Prägung sein kann.
Was die großen Fragen aufwirft: Gibt es den freien Willen? Ist er vorbestimmt? Und wenn ja, gibt es in einem determinierten freien Willen Freiräume? Das wären dann Nischen des Glaubens.
Gibt es einen genetischen Auftrag von Gott?
Alles eine Frage der Bestimmung. Glaube und Unglaube hängen weder von Intelligenz noch von Argumenten ab, sondern sind – und das ist ebenfalls meine Hypothese – epigenetisch determiniert.
Vor allem in den drei biologischen Fenstern wird das spätere Leben vorentschieden: In diesen Perioden gibt es Freiheiten, zu formen: unsere hormonellen und sensitiven Reaktionen, unsere Neurotransmitter und damit das, was wir Charakter und Einstellung nennen. Hier fällt auch die epigenetische Entscheidung darüber, ob man einen Weltenbaumeister akzeptiert oder nicht.
Nachher ändert sich das kaum mehr. Deshalb ist es nahezu sinnlos, epigenetisch entschiedene Menschen missionieren zu wollen, in die eine oder andere Richtung; da tut sich nichts mehr.
Die religiöse Prägung muss nicht von den Eltern kommen: Es gibt gläubige Eltern mit nichtglaubenden Kindern und umgekehrt. In den Prägemomenten können völlig unterschiedliche Variablen auftreten. Dafür gibt es jede Menge Beispiele, wie etwa eine bekannte Molekularbiologin aus Wien, die sich – auch öffentlich – an den Zeitpunkt erinnert, ab dem sie sich gegen einen Weltenbaumeister entschied. Ihre bornierten Religionslehrer verstörten sie derart, dass sie sich gegen Gott aussprach und diesen Moment heute noch weiß. Argumente oder wissenschaftliche Erkenntnisse waren nicht ausschlaggebend. Natürlich hinterfragt die europäische Geistesgeschichte diese epigenetische Determinierung und versucht Erklärungsmodelle zu finden, warum sich der eine für und der andere gegen Gott entscheidet. Warum in den Prägemomenten gerade dieser oder jener Würfel so oder anders fiel.
Der Kirchenvater Augustinus wählte dafür das Wort gratia, Geschenk, Gnade: Man hat es, oder man hat es nicht. Was für den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz das Pfeifen oder Berühren war, mit denen die eben geschlüpften Küken auf ihn und für ihn geprägt wurden, das ist bei der weltanschaulichen Prägung zweifellos komplizierter. Menschen vermitteln Argumente für oder gegen Gott. Die oft bemühte Blutspur der Religionen ist ein Prägedetail, das offene junge Menschen epigenetisch imprägnieren kann. Dieser Gott ist grausam, denken sie, herzlos und blutrünstig. Entsetzt vom Mittelalter, wenden sie sich ab vom Glauben.
Ethik und Epigenetik
Wissenschaftler meinen, wir kämen mit einem angeborenen ethischen Kompass zur Welt. Meine Frage geht weiter: Gibt es so etwas wie eine epigenetische Codierung ethischen Verhaltens?
Eine Erbmoral?
Die gängige Meinung: Das Ethische hat sich evolutionär nur deshalb behauptet, weil es sich für die Genprogramme auszahlte, ethisch zu handeln. Die Moral hatte weniger Verlierer. In der allgemeinen Konkurrenz waren jene Gruppen im Vorteil, die über eine effiziente Binnenmoral verfügten. Das ermöglichte ihre Stärkung nach außen. Demnach würden Überlebensdeterminanten – epigenetisch – bestimmen, was ethisch wäre.
Dieser soziobiologische Standpunkt wurde durch das Christentum überhöht. Die Vertreter der epigenetisch Glaubenden verweisen darauf, dass mit dem Christentum, vor allem auch zur Zeit der Aufklärung, ein weiteres Erklärungsmodell für die Wurzeln der Ethik in die geistige Landschaft Europas kam. Etwas, das von den Soziobiologen völlig ausgeblendet wird: Die Brüderlichkeit sei deswegen zu akzeptieren, weil alle Menschen ihre Existenz einem gemeinsamen Weltenbaumeister verdanken und deshalb Brüder im wörtlichsten Sinn des Wortes seien.
Nicht nur Brüder im Geiste, sondern tatsächlich.
Damit begann ein zusätzliches Argument, unabhängig von theologischen Überlegungen, in die geistesgeschichtliche Diskussion einzufließen: Was Ethik ist und wodurch sie entsteht. Für die Entstehung mögen die Soziobiologen recht haben. Mittlerweile gibt es in der Interpretation ethischer Normen einen Fortschritt, der den reinen Überlebensvorteil auf eine brüderliche, gotteskindhafte Ebene hievt.
Mit Epigenetik und Ethik betritt ein weiterer naturwissenschaftlicher Vorgang die Bühne, der das unterstreicht: die Spiegelneuronen.
Inverse Information: Abbild und Spiegelungen
Männer haben ein Gehirn. Erstaunlich, aber wahr.
Elferfrage an alle: Was sind Erinnerungen, und wo sind sie gespeichert?
Medizin und Biologie siedelten in vergangenen Jahrzehnten das Gedächtnis ausschließlich im Gehirn an, in den Neuronen. Bis die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärte: Sorry, folks. Nicht nur jede Zelle, sondern das Genom selbst hat – von Nerven unabhängig – ein Gedächtnis. Und das reagiert auf die Umwelt, die es im weitesten Sinn widerspiegelt.
Natürlich ist für den Alltag unser Gedächtnis im Kopf angesiedelt. Sollte es zumindest sein. Aber selbst dort fand man schon vor einiger Zeit Mechanismen, die im neuronalen Bereich das bestätigen, was im epigenetischen für intellektuelle Aufregung gesorgt hatte. Dass sich nämlich im Gehirn die Umwelt abbildet und widerspiegelt. Konkret: Über Spiegelneuronen haben wir ein mental universe.
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