Оноре де Бальзак

Verlorene Illusionen


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war. Unter dem Schutz ihres Mannes, der ihr eine Art Anstandsdame wäre, könnte sie nach Belieben ihr Geschick unter der Deckung einer ehrenhaften Firma lenken und würde dabei unterstützt von den Verbindungen, die Geist und Schönheit ihr in Paris verschafften. Naïs wurde von der Aussicht auf eine solche Freiheit verführt. Herr von Bargeton glaubte eine glänzende Partie zu machen, da er der Meinung war, sein Schwiegervater würde ihm bald die Besitzung hinterlassen, die er mit solcher Liebe immer mehr vergrößert hatte; aber es schien jetzt, als ob es Herrn von Nègrepelisse beschieden wäre, seinem Schwiegersohn die Grabschrift zu verfassen.

      Frau von Bargeton war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und ihr Mann achtundfünfzig. Diese Ungleichheit fiel noch mehr auf, da Herr von Bargeton wie ein Siebziger aussah, während seine Frau ungestraft das junge Mädchen spielen, sich rosa kleiden oder eine Kinderfrisur tragen konnte. Obwohl ihr Vermögen nicht mehr als zwölftausend Franken Rente betrug, zählte es unter die sechs beträchtlichsten Vermögen der alten Stadt, abgesehen von den Kaufleuten und den Administratoren. Die Notwendigkeit, sich mit ihrem Vater gut zu stellen, dessen Erbschaft Frau von Bargeton abwarten musste, um nach Paris gehen zu können, und der so lange darauf warten ließ, dass sein Schwiegersohn vor ihm starb, zwang Herrn und Frau von Bargeton, in Angoulême zu wohnen, wo die glänzenden Eigenschaften des Geistes und der Reichtum des Herzens, der in Naïs noch ungehoben schlummerte, fruchtlos verloren gehen und sich mit der Zeit in Lächerlichkeiten verwandeln mussten. In der Tat sind unsere Lächerlichkeiten zum großen Teil von einem schönen Gemütsleben oder von Tugenden und Eigenschaften, die ins Äußerste getrieben sind, verursacht. Der Stolz, den der Umgang in der großen Welt nicht mildert, wird Schroffheit, wenn er sich auf Kleinigkeiten erstreckt, während er sich in einem Kreis erhöhten seelischen Lebens hätte verstärken können. Die Begeisterung, diese Tugend, in der Tugend, die die Heiligen erzeugt, die die verborgenen Opfer und die leuchtenden Dichtungen hervorbringt, wird zur Überspanntheit, wenn sie sich an die Nichtigkeiten der Provinz verschwendet. Fern von dem Mittelpunkt, wo die großen Geister glänzen, wo die Luft mit Gedanken geladen ist, wo alles immer in Erneuerung ist, veraltet die Bildung, und der Geschmack verschlechtert sich wie ein stehendes Wasser. Aus Mangel an Übung nehmen die Leidenschaften ab, gerade weil sie die Bedeutung winziger Dinge übertreiben. Daher schreiben sich der Geiz und der Klatsch, die das Leben der Provinz verpesten. Bald gewinnt die Nachahmung des engen Gedankenlebens und der erbärmlichen Manieren selbst über die trefflichsten Menschen Gewalt. So gehen Männer, die zu Großem geboren sind, und Frauen zugrunde, die entzückend gewesen wären, wenn sie durch den Unterricht, den die Welt gibt, Schliff und durch überlegene Geister Formung erfahren hätten. Frau von Bargeton griff um jeder Kleinigkeit willen zur Leier, ohne das, was nur im Privatleben poetisch ist, vom Allgemeingültigen zu unterscheiden. Man muss in der Tat die Empfindungen, die nicht verstanden werden, für sich behalten. Ein Sonnenuntergang ist gewiss ein großes Gedicht, aber macht sich eine Frau nicht lächerlich, wenn sie ihn mit großen Worten vor Leuten schildert, die nur materielle Interessen haben? Es gibt Wonnen, die nur zu zweien gekostet werden können, zwischen zwei Dichtern, zwei Herzen. Sie hatte den Fehler, dass sie ungeheure Sätze bildete, die mit pathetischen Worten gespickt waren, Sätze, wie sie die Sprache der Pariser Journalisten so trefflich als »Brotscheiben« bezeichnet: sie schneiden täglich ihren Abonnenten sehr wenig verdauliche zum Frühstück vor, und die schlingen sie hinunter. Sie verschwendete maßlos Superlative, die ihre Unterhaltung schwerfällig machten und die geringsten Dinge ins Riesenhafte wachsen ließen. In dieser Zeit fing sie an, alles zu typisieren, individualisieren, synthetisieren, dramatisieren, superiorisieren, analysieren, poetisieren, prosaisieren, kolossifizieren, neologisieren und tragieren; denn man muss für einen Augenblick die Sprache vergewaltigen, um die modernen Verschrobenheiten zu schildern, die manche Frauen betreiben. Ihr Geist entzündete sich überdies gerade an ihrer Sprache. Der Dithyrambus war in ihrem Herzen wie auf ihren Lippen. Um jeden Vorfall bebte sie, fiel in Ohnmacht oder wurde hingerissen um die Aufopferung einer Grauen Schwester und die Hinrichtung der Brüder Faucher, um die »Ibsiboe« d'Harlincourts wie für die »Anaconda« von Lewis, um die Flucht des La Valette wie um eine ihrer Freundinnen, die mit lauter Stimme Diebe in die Flucht gejagt hatte. Für sie war alles erhaben, außerordentlich, seltsam, göttlich, wunderbar. Sie regte sich auf, wurde wütend, verzagte, schwang sich auf, klappte wieder zusammen, betrachtete den Himmel oder die Erde, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie verbrauchte ihr Leben in unausgesetztem Bewundern und verzehrte sich in seltsamem Verachten. Sie war begeistert für den Pascha von Janina, sie hatte Lust, mit ihm in seinem Serail zu kämpfen, und fand etwas Großes darin, in einen Sack genäht und ins Meer geworfen zu werden. Sie beneidete Lady Esther Stanhope, diesen Blaustrumpf der Wüste. Sie bekam Lust, eine Schwester vom Orden der heiligen Kamilla zu werden und zur Pflege der Kranken nach Barcelona zu gehen, um dort am gelben Fieber zu sterben: das war ein großes, edles Los! Kurz, sie dürstete nach allem, was nicht das seichte, stehende Wasser ihres Daseins war. Sie betete Lord Byron oder Jean Jacques Rousseau an, wie alle poetischen und dramatischen Persönlichkeiten. Sie hatte Tränen für alles Elend und triumphierte über alle Siege. Sie hatte Mitgefühl mit dem besiegten Napoleon und ebenso mit Mehemet Ali, der die Tyrannen Ägyptens niedermetzelte. Kurz, sie sah die genialen Menschen mit einem Glorienschein umgeben und glaubte, sie lebten von Duft und Licht. Vielen Leuten erschien sie als eine harmlose Geisteskranke; aber einem guten Beobachter wären diese Dinge als Trümmer einer wundervollen Liebe erschienen, die ebenso schnell wieder einstürzte, wie sie erbaut war, die Reste eines himmlischen Jerusalem, kurz, die Liebe ohne den Liebenden. Und so war es auch. Die Geschichte der achtzehn ersten Jahre der Ehe der Frau von Bargeton ist in wenig Worten erzählt. Sie lebte eine Zeitlang von sich selbst und von fernen Hoffnungen. Dann merkte sie, dass ihr geringes Vermögen ihr nicht erlaubte, wie sie es erstrebte, in Paris zu leben, und ging daran, die Personen ihrer Umgebung zu prüfen. Es schauderte ihr über ihre Einsamkeit. Es gab in ihrer Nähe keinen Mann, der sie zu irgendeiner Tollheit hätte bringen können, zu einer der Tollheiten, zu denen die Frauen die Verzweiflung über ein Leben ohne Sinn, ohne Ereignis, ohne Interesse hinreißt. Sie konnte auf nichts rechnen, nicht einmal auf den Zufall, denn es gibt Lebensläufe, denen der Zufall fehlt. Zu der Zeit, wo das Kaiserreich in seinem ganzen Glanze strahlte, als Napoleon nach Spanien fuhr und seine edelsten Truppen hinschickte, erwachten die Hoffnungen dieser Frau, die bis dahin immer enttäuscht worden waren. Die Neugier trieb sie natürlich, diese Helden zu sehen, die sich anschickten, auf eine Parole hin Europa zu erobern, und die die sagenhaften Ausfahrten des Rittertums wieder erneuerten. Die geizigsten und reaktionärsten Städte waren genötigt, der kaiserlichen Garde Feste zu geben, die Maires und die Präfekten mit feierlichen Ansprachen zum Empfang zu schicken, wie wenn ein König in die Stadt käme. Frau von Bargeton, die zu einem Ball gegangen war, den ein Regiment der Stadt gegeben hatte, verliebte sich in einen Edelmann, einen einfachen Unterleutnant, dem der schlaue Napoleon den Marschallstab Frankreichs gezeigt hatte. Diese verhaltene edle, große Liebe, die in Gegensatz stand zu den Liebesabenteuern, die damals so leicht begannen und so schnell wieder endeten, wurde von der Hand des Todes geheiligt. Bei Wagram zertrümmerte eine Kanonenkugel über dem Herzen des Marquis von Cante-Croix das einzige Bildnis, das von der Schönheit der Frau von Bargeton Kunde gab. Sie beweinte diesen jungen Mann lange Zeit, der, vom Ruhm und von der Liebe angefeuert, in zwei Feldzügen es bis zum Oberst gebracht hatte und dem ein Brief von Naïs lieber war als alle Gunstbeweise des Kaisers. Der Schmerz legte über das Gesicht dieser Frau einen Schleier von Traurigkeit. Dieses Gewölk zerstreute sich erst in dem schrecklichen Alter, wo die Frau anfängt, sehnsüchtig nach ihren schönen Jahren zurückzublicken, die vorübergegangen sind, ohne dass sie sie genossen hat, wo ihre Rosen zu welken beginnen, wo die Sehnsucht nach Liebe wiedererwacht und mit ihr das Verlangen, das letzte Lächeln der Jugend noch nicht schwinden zu sehen. Alle ihre überlegenen Eigenschaften taten ihrer Seele weh, da der tödliche Frost der Provinz sie befiel. Wie der Hermelin wäre sie vor Ekel gestorben, wenn sie sich in der Berührung mit Männern beschmutzt hätte, die keinen andern Gedanken hatten, als am Abend nach dem Essen um ein paar Pfennige zu spielen. Ihr Stolz bewahrte sie vor den traurigen Liebeshändeln der Provinz. Bei der Wahl zwischen der Nichtigkeit der Männer, die sie umgaben, und dem Nichts musste eine so überlegene Frau das Nichts vorziehen. Die Ehe und die Welt waren so für sie ein Kloster. Sie lebte von der Dichtung, wie die Karmeliterin von der Religion. Die Werke der berühmten Ausländer, die bis dahin unbekannt gewesen waren und in den Jahren 1815-1821 veröffentlicht wurden, die großen Schriften der de Bonald und de Maistre, dieser beiden kühnen Denker, endlich die