unterstützt hatte, der ihm, wenn es nottäte, sein Leben opferte, seine Mutter, die in ihrer niedrigen Lage nicht aufhörte, die große Dame zu sein, die von ihm glaubte, er wäre ebenso gut, wie er geistvoll war, seine Schwester, die in ihrem stillen Dulden, ihrer reinen Kindlichkeit und ihrer Unschuld so anmutig war, seine Hoffnungen, die noch kein Sturmwind entblättert hatte, all dessen gedachte er. Er sagte sich jetzt, es wäre schöner, sich mit den Streichen des Erfolges durch die geschlossenen Heerhaufen des aristokratischen oder bürgerlichen Lagers hindurchzuhauen, als durch die Gunst einer Frau ans Ziel zu gelangen. Früher oder später musste sein Geist leuchten und berühmt werden, wie der so vieler Männer, seiner Vorgänger, die mit der Gesellschaft fertig geworden waren, dann würden ihn die Frauen lieben! Das Beispiel Napoleons, das im neunzehnten Jahrhundert durch die Wünsche, die es mittelmäßigen Menschen einflößt, so verhängnisvoll ist, stellte sich vor Lucien hin, und er machte sich seine Berechnungen zum Vorwurf und streute sie in den Wind. So war Lucien beschaffen, er ging mit gleicher Leichtigkeit vom Bösen zum Guten und vom Guten zum Bösen. Statt der Liebe, die der Mann der Wissenschaft seiner stillen Zurückgezogenheit widmen sollte, empfand Lucien seit einem Monat eine Art Schamgefühl, wenn er den Laden sah, an dem in gelben Lettern auf grünem Grund zu lesen war:
Apotheke von Postel
Chardon Nachfolger.
Der Name seines Vaters, der so an einer Stelle geschrieben stand, an der alle Wagen vorbeifuhren, tat ihm in den Augen weh. Am Abend, wenn er seine Tür öffnete, die mit einem kleinen, recht geschmacklosen Gitterwerk geziert war, um nach Beaulieu unter die elegantesten jungen Leute der Oberstadt zu gehen und Frau von Bargeton den Arm zu reichen, hatte er das Missverhältnis zwischen dieser Wohnung und seinem Glücke oft bitter beklagt.
»Frau von Bargeton lieben, sie vielleicht bald besitzen und in diesem Rattennest wohnen!« sagte er sich, als er durch den Hausgang in den kleinen Hof ging, in dem mehrere Bündel gekochter Kräuter an den Mauern aufgehängt waren, in dem der Lehrling die Kochkessel des Laboratoriums scheuerte, in dem Herr Postel, seine Apothekerschürze vorgebunden und eine Retorte in der Hand, ein chemisches Präparat untersuchte, wobei er aber den Laden nicht aus den Augen verlor; denn wenn er sein Präparat noch so aufmerksam ansah, hatte er doch das Ohr bei der Klingel.
Der Geruch von Kamillen, Pfefferminz und verschiedenen andern destillierten Pflanzen erfüllte den Hof und das bescheidene Gemach, zu dem man auf einer steilen Treppe, die statt des Geländers zwei Stricke hatte, emporstieg. Oben war nur ein Mansardenzimmer, das Lucien bewohnte.
»Guten Tag! mein Junge«, sagte Herr Postel, der der richtige Typus des Provinzkrämers war, zu ihm. »Was macht unsere liebe Gesundheit? Ich mache ein Experiment über die Melasse, aber dein Vater wäre nötig, um herauszufinden, was ich suche. Das war ein Prachtkerl! Wenn ich sein geheimes Mittel gegen die Gicht wüsste, könnten wir heute alle beide in der Equipage fahren!«
Es verging keine Woche, in der der Apotheker, der ebenso dumm wie gutmütig war, Lucien nicht einen Dolchstich gab, indem er von der verhängnisvollen Verschwiegenheit zu ihm sprach, die sein Vater über seine Entdeckung bewahrt hatte.
»Ja, es ist ein großes Unglück«, antwortete Lucien kurz. Er fing an, den früheren Schüler seines Vaters furchtbar ordinär zu finden, den er doch früher oft gepriesen hatte; denn mehr als einmal hatte der wackere Postel die Witwe und die Kinder seines frühern Meisters unterstützt.
»Was gibts denn?« fragte Herr Postel und stellte seine Retorte auf den Tisch des Laboratoriums. »Ist ein Brief für mich gekommen?«
»Ja, einer, der wie Balsam duftet! Er ist im Kontor, auf meinem Pult.«
Der Brief von Frau von Bargeton mitten unter den Apothekerflaschen! Lucien stürzte in den Laden.
»Eile dich, Lucien, dein Essen wartet seit einer Stunde, es wird kalt werden«, rief eine angenehme Stimme in sanftem Ton durch ein halbgeöffnetes Fenster. Lucien hörte nicht mehr.
»Ihr Bruder hat den Rappel, Fräulein«, sagte Postel und hob die Nase hoch.
Dieser Junggeselle, der einige Ähnlichkeit mit einem kleinen Branntweinfässchen hatte, auf das die Phantasie eines Malers ein plumpes, gerötetes und blatternarbiges Gesicht gesetzt hätte, nahm, als er Eva erblickte, eine feierliche und liebliche Miene an, die erkennen ließ, dass er mit der Absicht umging, die Tochter seines Vorgängers zu heiraten, ohne dass er mit dem Zwiespalt fertig werden konnte, den die Liebe und das Interesse in seinem Herzen miteinander ausfochten. Daher sagte er zu Lucien oft lächelnd die Worte, die er auch jetzt zu ihm sagte, als der junge Mann wieder bei ihm vorbeikam: »Sie ist ganz reizend, deine Schwester! Du bist auch nicht übel! Euer Vater hat alles gut gemacht!«
Eva war groß, brünett, hatte schwarze Haare und blaue Augen. Obwohl sie Proben eines männlichen Charakters zeigte, war sie sanft, zart und hingebend. Ihre Unschuld, ihr kindliches Wesen, ihre ruhige Fügung in ein Leben der Arbeit, ihre Klugheit, die ohne jede Bosheit war, hatten David Séchard bestricken müssen. So war denn auch von ihrem ersten Beisammensein an eine stille, schlichte Liebe zwischen ihnen entstanden, eine deutsche Liebe, ohne leidenschaftliches Wesen und stürmische Erklärungen. Jeder von beiden hatte im geheimen an den andern gedacht, wie wenn ein eifersüchtiger Gatte sie getrennt hätte, für den dieses Gefühl eine Kränkung gewesen wäre. Alle beide verbargen ihr Gefühl vor Lucien, dem sie vielleicht irgendeinen Schaden anzutun fürchteten. David fürchtete sich, er könnte Eva nicht gefallen, und sie wiederum überließ sich der ganzen Verzagtheit, die die Not mit sich bringt. Eine richtige Arbeiterin wäre kühn gewesen, aber ein wohlerzogenes Mädchen, das in schlechte Lage gekommen ist, passt sich dem Unglück an. Eva, deren Wesen bescheiden, die aber in Wirklichkeit stolz war, wollte es nicht auf den Sohn eines Mannes absehen, der für reich galt. In diesem Augenblick schätzten die Leute, die den wachsenden Wert des Grundbesitzes kannten, das Landgut in Marsac auf mehr als achtzigtausend Franken, die Ländereien ungerechnet, die der alte Séchard, der viel Ersparnisse und glückliche Ernten hatte und im Verkauf geschickt war und die rechten Gelegenheiten abpasste, noch dazukaufen musste. David war vielleicht der einzige Mensch, der nichts von dem Vermögen seines Vaters wusste. Für ihn war Marsac ein heruntergekommenes Anwesen, das sein Vater im Jahre 1810 für fünfzehn- oder sechzehntausend Franken gekauft hatte, das er einmal im Jahr zur Zeit der Weinlese besuchte, wo der Vater dann mit ihm durch die Weinberge ging und ihm von den reichen Ernten erzählte, die der Drucker nie zu sehen bekam und um die er sich sehr wenig kümmerte. Die Liebe eines an die Einsamkeit gewöhnten Gelehrten, dessen Gefühle sich dadurch noch steigerten, dass er sich die Schwierigkeiten übertrieben groß vorstellte, hätte ermutigt werden müssen, denn für David war Eva ein stolzeres Weib, als es eine große Dame für einen armen Kommis ist. Er war in der Nähe seiner Verehrten linkisch und unruhig, hatte es ebenso eilig, wieder fortzugehen wie hinzukommen, und hielt seine Gefühle zurück, anstatt sie zum Ausdruck zu bringen. Oft am Abend ersann er einen Vorwand, um Lucien noch sprechen zu müssen, und stieg von der Place du Mûrier durchs Palet-Tor nach Houmeau hinab; aber wenn er an der grünen Tür mit dem eisernen Gitter angekommen war, kam ihm die Furcht, er komme zu spät oder er falle Eva, die sich vielleicht schon hingelegt hatte, lästig, und ergriff die Flucht. Obschon diese große Liebe nur an kleinen Zeichen zu erkennen war, hatte sie Eva wohl bemerkt; es schmeichelte ihr, ohne dass sie hochmütig wurde, der Gegenstand der tiefen Verehrung zu sein, die in den Blicken, den Worten, dem Benehmen Davids zum Ausdruck kam. Aber was ihr an ihm vor allem gefiel, war seine fanatische Freundschaft zu Lucien; er hätte auf kein besseres Mittel kommen können, Eva zu gefallen. Wollte man sagen, worin sich die stummen Wonnen dieser Liebe von einer lebhaften, lauten Leidenschaft unterschieden, so müsste man sie den Feldblumen im Gegensatz zu den grellen Gartenblumen vergleichen. Es waren sanfte, zarte Blicke, wie die blauen Lotosblumen, die auf dem Wasser schwimmen, flüchtige Liebeszeichen, wie der schwache Duft der Heckenrose, sanfte Traurigkeit, wie der Samt des Mooses; Blumen zweier schönen Seelen, die aus einem reichen, fruchtbaren, unwandelbaren Boden erwachsen. Eva hatte schon öfter die verborgene Kraft, die unter diesen schwachen Äußerungen schlummerte, erraten. Sie war David für alles, was er nicht wagte, so dankbar, dass der geringste Zwischenfall eine innigere Verbindung ihrer Seelen herbeiführen konnte.
Eva hatte Lucien die Tür schon geöffnet, und er ließ sich schweigend an einem kleinen Tisch ohne