Macht, die dieser Talisman verleiht, Männern angeboten, die mehr Energie hatten, als Sie zu besitzen scheinen; aber wenngleich sich auch alle über den zweifelhaften Einfluss, den er auf ihr künftiges Geschick ausüben sollte, lustig machten, hat doch noch keiner gewagt, diesen von einer unbekannten Macht so verhängnisvoll vorgeschlagenen Pakt einzugehen. Ich denke wie sie, ich habe gezweifelt, habe mich enthalten, und ...«
»Und Sie haben es nicht einmal probiert?« unterbrach ihn der junge Mann.
»Probieren!« rief der Alte. »Wenn Sie auf der Vendôme-Säule ständen, würden Sie dann wohl probieren, in die Luft zu springen? Kann man den Lauf des Lebens aufhalten? Hat der Mensch je vermocht, stückchenweise zu sterben? Bevor Sie in dieses Kabinett traten, waren Sie entschlossen, sich das Leben zu nehmen; aber plötzlich beschäftigt Sie ein Geheimnis und bringt Sie vom Sterben ab. Kind! Wird Ihnen nicht jeder Ihrer Tage ein noch spannenderes Rätsel aufgeben, als es dieses ist? Hören Sie mich an. Ich habe noch den lasterhaften Hof des Regenten gesehen. Wie Sie steckte ich damals im Elend, ich habe mein Brot erbettelt. Trotzdem bin ich einhundertzwei Jahre alt und Millionär geworden: das Unglück machte mich reich, die Unwissenheit machte mich klug. Ich will Ihnen in wenigen Worten ein großes Geheimnis des menschlichen Lebens offenbaren: Der Mensch erschöpft sich durch zwei Akte, die er instinktiv vollzieht und die seine Lebensquellen zum Versiegen bringen. Zwei Verben drücken alle Formen aus, die diese beiden Todesursachen annehmen: Wollen und Können. Zwischen diesen beiden Grenzbegriffen menschlichen Handelns liegt ein anderer, dessen sich die Weisen bemächtigen, und ihm verdanke ich das Glück und mein langes Leben. Das Wollen verzehrt uns, und das Können zerstört uns; aber das Wissen lässt unsern schwachen Organismus in einem immerwährenden Zustand der Ruhe. So ist das Verlangen oder das Wollen in mir tot, vom Denken vernichtet. Die Bewegung oder das Können ist durch das natürliche Spiel meiner Organe aufgehoben. Kurz, ich habe mein Leben nicht in das Herz, das bricht, nicht in die Sinne, die abstumpfen, sondern in das Gehirn verlegt, das sich nicht abnutzt und alles überlebt. Kein Übermaß hat meiner Seele oder meinem Leib je geschadet. Dennoch habe ich die ganze Welt gesehen. Ich habe meine Füße auf die höchsten Berge Asiens und Amerikas gesetzt, habe alle Sprachen der Welt gelernt und unter allen Herrschaftsformen gelebt. Ich habe einem Chinesen mein Geld geborgt, der mir den Leichnam seines Vaters verpfändete, ich habe im Zelt des Arabers geschlafen, nur seinem Wort vertrauend; ich habe in allen Hauptstädten Europas Verträge unterzeichnet und habe mein Gold bedenkenlos im Wigwam der Wilden gelassen; kurz, ich habe alles erreicht, weil ich alles zu verachten verstand. Mein einziger Ehrgeiz war: zu sehen. Sehen, heißt das nicht wissen? Oh, junger Mann, heißt wissen nicht intuitiv genießen? Heißt dies nicht das Wesen der Dinge entdecken und sich dessen zu bemächtigen? Was bleibt uns vom materiellen Besitz? Eine Vorstellung. Urteilen Sie nun selbst, wie schön das Leben eines Mannes sein muss, der alle Wirklichkeit in sein Denken aufzunehmen vermag, den Ursprung des Glücks in seine Seele verlegt und so tausend vollkommene Freuden genießt, die von irdischem Makel befreit sind. Das Denken ist der Schlüssel zu allen Schätzen, es verschafft die Freuden des Geizigen, ohne dessen Sorgen. So habe ich mich über die Welt erhoben, und meine Genüsse sind geistiger Art gewesen. Meine Ausschweifungen waren die Betrachtung der Meere, der Völker, der Wälder, der Gebirge. Ich habe alles gesehen, aber in Ruhe, ohne Anstrengung; ich habe nie etwas herbeigewünscht, ich habe alles abgewartet. Ich habe das Universum durchwandelt wie den Garten eines Hauses, das mir gehörte. Was die Menschen Kummer, Liebe, Ehrgeiz, Missgeschick, Traurigkeit nennen, das sind für mich Begriffe, die ich in Träumereien verwandle. Statt sie zu empfinden, verarbeite ich sie und verdeutliche sie; anstatt von ihnen mein Leben verzehren zu lassen, dramatisiere und entwickle ich sie und ergötze mich daran wie an Romanen, die ich mit meinem inneren Auge lese. Da ich meine Organe niemals überanstrengt habe, erfreue ich mich noch einer guten Gesundheit. Da meiner Seele die ganze Kraft, die ich nicht verbraucht habe, zugute gekommen ist, so ist mein Kopf noch besser ausgestattet als diese Lagerräume. Hier«, sagte er und klopfte sich an die Stirn, »hier sind die wahren Millionen. Ich verbringe köstliche Tage, wenn ich in Gedanken den Blick in die Vergangenheit schweifen lasse; ganze Länder, Landschaften, Bilder des Meeres, Gestalten von historischer Schönheit beschwöre ich herauf. Ich habe ein imaginäres Serail, wo ich alle Frauen besitze, die mir nie gehört haben. Oft lasse ich eure Kriege, eure Revolutionen an mir vorüberziehen und urteile über sie. Oh! wie kann man die flüchtige, hitzige Lust an mehr oder weniger rosigem Fleisch, an mehr oder weniger üppigen Formen, wie kann man das Unheil, das von eurem betrogenen Willen kommt, der erhabenen Fähigkeit vorziehen, das Universum an sich zu reproduzieren, das ungehemmte Glück, sich frei zu bewegen, ohne an die Fesseln von Zeit und Raum gekettet zu sein, der Seligkeit teilhaftig zu werden, alles zu umfassen, alles zu sehen, sich über den Rand der Welt zu neigen, um die andern Sphären zu befragen, um Gott zu lauschen! Darin«, sagte er mit erhobener Stimme und deutete auf das Chagrinleder, »darin sind ›Können‹ und ›Wollen‹ gleich. Da sind eure sozialen Ideen, eure ausschweifenden Begierden, eure maßlosen Genüsse, eure tödlichen Lüste, eure lebenszehrenden Schmerzen vereint; denn der Schmerz ist vielleicht nur eine allzu heftige Lust. Wer vermag wohl den Punkt zu bestimmen, wo die Lust Schmerz wird und wo der Schmerz noch Lust ist! Tun nicht die lichtesten Strahlen der idealen Welt dem Auge noch wohl, während jede noch so gelinde Finsternis der physischen Welt ihm weh tut? Kommt das Wort Weisheit nicht von Wissen? Und was ist die Torheit, wenn nicht das Übermaß eines Wollens oder Könnens?«
»Wohlan denn, ich will leben im Übermaß!« sprach der Unbekannte und ergriff das Chagrinleder.
»Junger Mann, hüten Sie sich!« rief der Alte mit unglaublicher Heftigkeit.
»Ich hatte mein Leben dem Studium und dem Denken geweiht, aber es hat mir nicht einmal Brot gegeben«, erwiderte der Unbekannte. »Ich will mich weder von einer Predigt zum Narren halten lassen, die eines Swedenborg [*Swedenborg, Emanuel von(1688-1772)]: schwedischer Theosoph und Naturwissenschaftler; lehrte den organischen und mechanischen Zusammenhang aller Dinge. Er soll eine Vision gehabt haben, bei der ihm Gott erschienen sei und ihn als Propheten ausersehen habe. Swedenborg lehrte, dass Christus die Dreieinigkeit wäre und dass zwischen Gott und dem Menschen eine unsichtbare Welt existiere, die er als eine geistige Übersetzung der menschlichen Welt veranschaulicht. Diese Welt sei bevölkert von Engeln, die wie Menschen lebten würdig wäre, noch von Ihrem orientalischen Amulett, noch von Ihren barmherzigen Bemühungen, Monsieur, mich an eine Welt zu binden, wo meine Existenz künftighin unmöglich ist. Lass sehen!« rief er und drückte krampfhaft den Talisman, wobei er den Alten ansah. »Ich will ein glanzvolles, wahrhaft königliches Mahl, ein Bacchanal, wie es des Jahrhunderts würdig ist, in dem alles, wie man sagt, vollkommen sein soll. Meine Gäste sollen jung sein, geistreich und ohne Vorurteile, ausgelassen bis zur Tollheit! Und Weine sollen gereicht werden, die immer prickelnder, immer süffiger, immer stärker uns drei Tage lang berauschen! Die Nacht soll von feurigen Frauen verschönt sein! Ich will, dass die rasende ungezügelte Lust uns in ihrem Viergespann davontrage, über die Grenzen der Welt hinaus, uns an unbekannte Küsten verschlage, dass die Seelen sich in himmlische Gefilde schwingen oder in den Kot sinken, ob sie sich damit erheben oder erniedrigen, ich weiß es nicht, und es schert mich auch wenig! So befehle ich denn der finstern Macht, mir alle Freuden zu einer zu verschmelzen. Ja, alle himmlischen und irdischen Wonnen will ich in einer letzten Umarmung umfassen, um daran zu sterben. Dem Trinken sollen antike Liebesfeste folgen, Gesänge, die Toten zu erwecken, und dreifache Küsse, endlose flammende Küsse, die wie eine Feuersbrunst über Paris auflodern, so dass die Gatten aus dem Schlaf fahren und in eine rasende Glut geraten, die sie alle verjüngt, selbst die Siebzigjährigen!«
Gellendes Gelächter aus dem Munde des kleinen Alten tönte dem Wahnwitzigen in die Ohren wie ein Tosen der Hölle und unterbrach ihn so gebieterisch, dass er verstummte.
»Glauben Sie«, sagte der Händler, »dass mein Fußboden sich plötzlich öffnen wird, um prächtig beladene Tische und Gäste aus der andern Welt heraufzulassen? Nein, nein, junger Hitzkopf. Sie haben den Pakt geschlossen, alles ist gesagt. Von jetzt ab werden Ihre Wünsche peinlich genau erfüllt, aber auf Kosten Ihres Lebens. Der Kreis ihrer Tage, den dieses Leder verkörpert, wird je nach Ausmaß und Zahl Ihrer Wünsche, vom kleinsten bis zum ungeheuerlichsten, immer enger werden. Der Brahmane, dem ich diesen Talisman verdanke, hat mir seinerzeit erklärt, dass eine geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen dem Schicksal und den Wünschen des Besitzers eintreten wird. Ihr erster Wunsch ist