Touraine die zerrissene Zugleine wieder instand setzte, beschwichtigte den Obristen Comte d'Aiglemont, der an den Wagenschlag zurücktrat und die Arme streckte, um die steifen Glieder zu lockern. Er gähnte, betrachtete die Landschaft und legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgfältig in einen Pelzmantel eingehüllt war.
»Wach auf, Julie«, rief er mit heiserer Stimme, »sieh dir doch einmal die Landschaft an! Sie ist prachtvoll.«
Julie steckte den Kopf aus dem Wagen. Sie trug eine Marderpelzmütze, und der weite pelzgefütterte Mantel, den sie trug, verbarg ihre Gestalt so völlig, dass man nur das Gesicht sehen konnte. Julie d'Aiglemont glich schon nicht mehr dem jungen Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit freudig und glücklich zu der Parade in die Tuilerien geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte die rosigen Farben verloren, die es ehedem hatten so blühend erscheinen lassen. Ihr schwarzes, von der Feuchtigkeit der Nacht aufgelöstes Lockenhaar ließ das matte Weiß des Gesichts hervortreten, dessen Lebhaftigkeit erstarrt schien. Ihre Augen glänzten allerdings in einem übernatürlichen Feuer; doch unterhalb der Lider lagen dunkle Schatten auf den müden Wangen. Sie ließ ihre Blicke gleichgültig über die Landschaften des Cher, der Loire mit ihren Inseln, über Tours und die Felsenkette von Vouvray schweifen, dann sank sie schleunigst wieder in die Polster des Wagens zurück, ohne das entzückende Tal der Cise ansehen zu wollen, und sagte mit einer Stimme, die im Freien außerordentlich schwach klang: »Ja, es ist wunderbar.«
Sie hatte, wie man sieht, über ihren Vater gesiegt – zu ihrem Unglück.
»Julie, möchtest du nicht hier leben?« – »Oh, hier oder anderswo«, sagte sie leichthin. »Fehlt dir etwas?« fragte sie der Oberst d'Aiglemont. »Keineswegs«, erwiderte die junge Frau mit erzwungener Lebhaftigkeit. Sie blickte ihren Mann lächelnd an und fügte hinzu: »Ich möchte schlafen.«
Plötzlich ertönte der Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ die Hand seiner Frau los und wandte den Kopf nach der Biegung, die der Weg an dieser Stelle machte. Sobald der Oberst von Julie wegblickte, schwand der heitere Ausdruck, den sie ihrem blassen Gesicht gegeben hatte, als wäre ein heller Schein plötzlich erloschen. Da sie weder den Wunsch hatte, die Landschaft wiederzusehen, noch die Neugier, zu wissen, wer jener Kavalier sei, dessen Pferd so wild dahergaloppierte, drückte sie sich in die Ecke des Wagens und hielt die Augen starr und ohne irgendein Gefühl zu verraten, auf die Kruppe der Pferde gerichtet. Sie hatte den stumpfen Blick eines bretonischen Bauern, wenn er die Predigt seines Pfarrers hört. Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde kam plötzlich aus einem Wäldchen von Pappeln und blühendem Hagedorn hervor.
»Das ist ein Engländer«, sagte der Oberst. »Ach Gott, ja, Monsieur le Général«, erwiderte der Postillion; »es ist einer von den Kerlen, die, wie man sagt, Frankreich fressen wollen.«
Der Unbekannte war einer jener Reisenden, die sich auf dem Kontinent befanden, als Napoleon in Erwiderung der Verletzung des Völkerrechts durch das Kabinett von Saint-James, das den Vertrag von Amiens gebrochen hatte, alle Engländer festnehmen ließ. Diese Gefangenen, die den Launen der kaiserlichen Macht unterstellt waren, blieben nicht alle an den Orten, wo sie festgenommen worden waren, noch an denen, die sie anfangs nach Belieben wählen konnten. Die meisten von denen, die zu dieser Zeit die Touraine bewohnten, waren aus den verschiedensten Teilen des Kaiserreichs, wo ihr Aufenthalt die Interessen der kontinentalen Politik hätte gefährden können, dorthin transportiert worden. Der junge Gefangene, der hier seine Vormittagslangeweile spazierenführte, war solch ein Opfer der bürokratischen Macht.
Vor zwei Jahren hatte er auf Befehl des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Montpellier, wo er sich zur Zeit des Friedensbruchs aufhielt, um eine Heilung von einem Lungenleiden zu erlangen, verlassen müssen. Im Augenblick, da der junge Mann in dem Comte d'Aiglemont einen Offizier erkannte, suchte er dessen Blicken auszuweichen und wandte den Kopf auffällig genug den Wiesen längs der Cise zu.
»Alle diese Engländer sind unverschämt, als ob die ganze Welt ihnen gehörte«, brummte der Oberst; »nun, Soult wird ihnen schon die Peitsche geben!«
Als der Gefangene an der Kalesche vorbeiritt, warf er einen Blick hinein. Trotz der Flüchtigkeit dieses Blicks konnte er auf dem nachdenklichen Gesicht der Comtesse der Melancholie gewahr werden, die ihm einen so unbeschreiblichen Reiz verlieh. Es gibt viele Männer, die durch den bloßen Anblick des Leidens einer Frau mächtig bewegt werden; in ihren Augen scheint der Schmerz eine Bürgschaft der Treue oder der Liebe zu sein. Julie, die ganz in die Betrachtung eines Wagenkissens versunken war, achtete weder auf das Pferd noch auf den Reiter. Der Riemen war rasch und fest ausgebessert worden. Der Comte stieg wieder in den Wagen. Der Postillion bemühte sich, die verlorene Zeit wieder einzuholen, und fuhr in raschem Trab auf dem Damm dahin, den die überhängenden Felsen begrenzten, an deren Hängen die Weine von Vouvray reifen und auf denen so viele hübsche Häuser emporragen. In der Ferne konnte man die Ruinen der berühmten Abtei von Marmontiers, den Zufluchtsort des heiligen Martin, erblicken.
»Was will dieser bleichwangige Lord eigentlich von uns?« rief der Oberst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Reiter, der seinem Wagen von der Cisebrücke an folgte, tatsächlich der junge Engländer war.
Da der Fremde damit, dass er auf dem Damm spazierenritt, kein Gebot der Höflichkeit verletzte, lehnte sich der Oberst in seine Ecke des Wagens zurück, nachdem er dem Engländer noch einen drohenden Blick zugeworfen hatte. Aber er konnte trotz seiner unwillkürlichen Feindseligkeit nicht umhin, die Schönheit des Pferdes und die Anmut des Reiters zu bewundern. Der junge Mann hatte ein typisch britisches Gesicht mit so feinem Teint und so glatter, weißer Haut, dass man meinen konnte, es gehöre einem schönen jungen Mädchen. Er war blond, schmal und groß. Sein Anzug hatte jenes Gepräge von Sorgfalt und Reinlichkeit, das die Fashionablen des prüden England auszeichnet. Es hatte den Anschein, als ob er mehr aus Schamhaftigkeit als vor Vergnügen beim Anblick der Comtesse errötet war. Ein einziges Mal hob Julie die Augen zu dem Reisenden empor; aber es war auf Veranlassung ihres Mannes, der wünschte, dass sie die Beine eines Rassepferdes bewundern sollte. Dabei begegneten ihre Augen dem schüchternen Blick des jungen Engländers. Von da an ließ er sein Pferd einige Schritte hinter der Kalesche hertraben, anstatt daneben zu reiten. Die Comtesse hatte den Fremden kaum angesehen. Sie bemerkte an Pferd und Reiter keine der Vollkommenheiten, auf die sie aufmerksam gemacht worden war, und sank mit einer leichten Bewegung der Augenbrauen, die eine Zustimmung bedeuten sollte, in den Wagen zurück. Der Oberst schlief wieder ein, und die beiden Gatten kamen nach Tours, ohne ein Wort gewechselt zu haben und ohne dass die reizenden Bilder der wechselnden Landschaft, durch die sie fuhren, ein einziges Mal Julies Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Während ihr Mann schlummerte, betrachtete ihn Julie hin und wieder. Bei dem letzten Blick, den sie ihm zuwarf, fiel durch einen Stoß des Wagens ein Medaillon, das sie an einer Trauerkette um den Hals trug, auf ihren Schoß und zeigte der jungen Frau plötzlich das Bild ihres Vaters. Bei diesem Anblick rannen ihr die bisher unterdrückten Tränen über das Gesicht. Vielleicht hatte der Engländer die feuchtglänzenden Spuren, die diese Tränen einen Augenblick auf den blassen Wangen der Comtesse zurückließen, gesehen, ehe sie trockneten. Der Oberst d'Aiglemont war vom Kaiser beauftragt worden, dem Marschall Soult, der Frankreich gegen die Invasion der Engländer im Béarn zu verteidigen hatte, Befehle zu überbringen, und benutzte die Gelegenheit, seine Frau den Gefahren zu entziehen, die Paris damals bedrohten, und sie nach Tours zu einer alten Verwandten zu führen. Bald rollte der Wagen über das Pflaster von Tours, über die Brücke und in die Grande Rue und hielt vordem alten Palast, den die ehemalige Marquisette Listomère-Landon bewohnte.
Die Marquise de Listomère-Landon war eine von den schönen, alten Frauen mit blassem Gesicht, weißen Haaren und feinem Lächeln. Ihr Kleid und ihr Kopfputz gehörten einer langst vergessenen Mode an. Sie verkörperte mit ihren siebzig Jahren das Zeitalter Ludwigs XV.; diese Frauen sind fast immer so zärtlich, als seien sie noch verliebt; sie sind weniger gottergeben als fromm, aber doch nicht so fromm, als man meinen könnte, und sie haben immer einen Duft von Puder à la marechale an sich. Sie können gut Konversation treiben, noch besser plaudern, und lachen eher über eine Erinnerung als über einen Scherz. Die Gegenwart missfällt solchen Frauen. Als eine alte Kammerfrau der Marquise (sie sollte bald wieder diesen Titel führen dürfen) den Besuch eines Neffen, den sie seit dem Beginn des Spanischen Krieges nicht gesehen hatte, meldete, nahm