Оноре де Бальзак

Physiologie des Alltagslebens


Скачать книгу

welche Vorstellung! – einen schnoddrigen Witz nennen würde, so kaltschnäuzig ist er. Oder wenn er mit irgendeiner aktuellen Anspielung, die wir heute kaum mehr verstehen, und die in vielen Fußnoten zu erklären ich nicht für notwendig gefunden habe, mit einem Wortspiel oder mit einem jähen Gedankenspiel den Kreis scheinbar schließt. Vielleicht bedarf der Übersetzer der Nachsicht des Lesers. Er hat es nämlich unterlassen, alles zu erklären und zu kommentieren, hat es selbst dort unterlassen, wo eine Erklärung des Details möglich und nützlich gewesen wäre. Ich war der Meinung, dass man dieses Buch in seinem Innersten erfassen müsse, anstatt es Zeile für Zeile zu zerpflücken. Das Buch sollte nicht allzuviel von seiner Leichtigkeit einbüssen, und ich glaubte, dass es den Eindruck jeder dieser Seiten, vor allem aber den Zusammenhang zerstören, den Ton verwischen würde, wenn jeder Anspielung auf irgendeine Aktualität des Jahres achtzehnhundertundsoundsoviel die Erklärung, die das Konversationslexikon oder die Enzyklopädie ergeben hätte, hinzugefügt wäre. Der Herausgeber muss sich noch im besonderen bei den Philologen entschuldigen. In der kleinen Schrift über die Krawatten sind nämlich ganze Kapitel weggelassen.

      Das ist ein sonderbares Buch, das mir der Zufall in die Hände spielte. Es ist unzweifelhaft von Balzac, darüber kann ich die Gemüter beruhigen. Sogar die höchst kritische Bibliographie der Bibliothek nationale zeigt das an, und zeitgenössische Schriften geben den Beweis, dass Balzac der Verfasser dieser anonym erschienenen kleinen »Physiologie« ist. Aber wenn auch Balzac der Autor ist, in diesem einen Fall schien mir die Vollständigkeit von Übel. Man hätte nämlich auch alle die Tafeln mit reproduzieren müssen, durch die »Die Kunst, seine Krawatte zu binden« aufs genaueste illustriert wird. Und dann »stimmt« sozusagen das meiste nicht mehr. Die Meinungen über den Anstand in Krawattenfragen haben sich geändert; dann, wir wollen ja nicht unsere Krawatten heute so binden, wie es die Zeitgenossen Balzacs getan haben, wir haben ja auch nicht die Möglichkeit, in jenen Geschäften zu kaufen, die Balzac in dem Buch als die besten Quellen für den fashionablen Mann angegeben hat. Die sechzehn praktischen Lektionen amüsieren vor allem durch die – Überschriften. Balzac weiß von einer cravate sentimentale und einer mathematique, von einer à la gastronome und à l'Indépendance. Natürlich auch von einer englischen und amerikanischen. Und der Verdacht ist nicht abzuweisen, dass es von einigen dieser Künste, die Krawatte zu binden und zu tragen, nur den Titel gegeben hat, nur die Bosheit. Das gilt, glaube ich, ebenso von der »coquille dite pucellage« – der Staatsanwalt wünscht, dass ich die Übersetzung lasse – wie von der »jesuitique«, der romantischen à la Byron und der komödiantischen à la Talma. Diese kleinen Scherze muss der intime Freund Balzacscher Art schon im französischen Original aufsuchen. Uns bleibt hier trotz allem noch genug: eine Art Kostümgeschichte, fast Kulturgeschichte, gesehen durch das Temperament der Krawattenfreunde, eine geistreiche Erklärung der »Incroyables«. Das muss genügen. Aus diesem Grunde ist also von diesem Buche nur ein Teil, sozusagen das Prinzipielle, hier gegeben worden, wenn es auch an Reiz nicht gefehlt hat, das Ganze zu geben, besonders da selbst die Franzosen die Schrift seit der ersten Ausgabe nie wieder erscheinen ließen, und fast niemand sie also kennt. Franzosen sind nicht so bücherlüsterne Menschen wie wir. So haben sie die Originalausgabe, ein kleines, vergilbtes, nur in wenigen Exemplaren in Paris und hier in der Lipperheide-Sammlung (allerdings ohne dass Balzacs Autorschaft gekennzeichnet ist) von mir gesehenes Exemplar nie neugedruckt. Vielleicht geschieht es jetzt, wenn sie auf dem Umwege über unser Tun hier darauf aufmerksam gemacht werden. Diese »L'art de mettre sa cravate«, »Die Kunst, seine Krawatte zu binden« und zu tragen – man begreift rasch genug, dass Balzac gewusst hat, dass das Binden allein noch nicht, sondern das Tragen das wichtigste ist, nämlich die Art, wie man sich mit seiner Krawatte, mit allen seinen Kleidungsstücken in der Welt bewegt, – ist ein Gegenstück zu einer andern kleinen Schrift: »L'art de payer ses dettes«, die wir im dritten – und wir versprechen es – letzten Bande dieser Ausgabe unveröffentlichter Schriften Balzacs bringen wollen.

      Als Zeichnungen, als Bilder, nicht als Illustration zu den Texten sind diesmal vor allem Blätter von Daumier und Monnier hier beigefügt worden, weil beide ebenso wie Gavarni (es ist ja schon in der Einleitung des ersten Bandes davon die Rede gewesen) Männer aus demselben Geistes- und Gefühlskreise wie Balzac waren. Nicht so groß wie er, aber begabt mit hellen Augen. Wie sie die Menschen rasch mit der Kohle oder Feder zu fassen verstanden haben, so hat sie auch Balzac in seinen kurzen Kapiteln von Mode und Alltag erfasst. Den großen Blick für die Zusammenhänge hat Daumier nicht gehabt, er ist eben ein Zeichner, kein Dichter. Trotzdem wüssten wir, selbst wenn er nicht ein Zeitgenosse Balzacs gewesen wäre, keinen andern Künstler aus der Heerschar aller Künstler aller Zeiten, der dieses Buch besser illustriert hätte, wenn es nämlich überhaupt darauf ankäme, es zu illustrieren. Die Balzacschen Worte bedürfen keiner Illustrationen. Das Buch bedarf dieser Ergänzung nicht. Aber Balzac ist unser Lehrmeister und er weiß es: das Überflüssige ist das Notwendige. Darum haben wir diese Blätter von Daumier, Monnier, Trimolet, Vernet und anderen aus dem gleichen Kreise zwischen die Seiten Balzacs drucken und heften lassen.

      W. Fred.

      Der Rentier

      Anthropomorphes Wesen nach Linné, Wir erklären uns für die Klassifikation des großen Linné, gegen jene Cuviers. Das Wort anthropomorph ist ein genialer Ausdruck, der vortrefflich auf die vom Gesellschaftsstaat geschaffenen tausend Gattungen passt.

      Anmerkung des Verfassers. Säugetier nach Cuvier, Abart der Gattung Pariser, Familie der Aktionäre, Stamm der Einfältigen, der Civis inermis der Alten, entdeckt vom Abbé Terray, beschrieben von Silhouette, neu festgestellt durch Turgot und Necker, auf Kosten der »produzierenden Klassen« (siehe: Saint-Simon) endgültig dem Besitzstand der Welt einverleibt.

      Dieses aber sind die wesentlichen Charakterzüge dieses bemerkenswerten Stammes, wie sie heute die hervorragendsten Kenner und Deuter Frankreichs und des Auslandes anerkennen:

      Der Rentier erreicht eine Höhe von fünf bis sechs Fuß, seine Bewegungen sind im allgemeinen langsam; aber die fürsorgliche Natur, auf die Erhaltung der schwächeren Gattungen bedacht, hat ihm die Omnibusse geschenkt, mit deren Hilfe die meisten Rentiers sich von einem Punkt der Atmosphäre von Paris zum andern bewegen; entzieht man ihnen die Pariser Luft, so leben sie überhaupt nicht mehr. Jenseits dieser Grenze kränkelt der Rentier und geht ein.

      Seine großen Füße sind von Knopfstiefeln bedeckt, seine Beine stecken in bräunlichen oder rötlichen Beinkleidern. Im Hause krönt ihn ein kreisrundes Mützchen; im Freien deckt ihn ein Hut, der zwölf Franken kostet. Seine Krawatte ist aus weißem Musselin. Fast alle diese Individuen sind mit Stöcken bewaffnet und einer Tabacière, der sie ein schwärzliches Pulver entnehmen, mit dem sie unaufhörlich ihre Nasenlöcher anstopfen, eine Gewohnheit, die der französische Fiskus sehr geschickt auszunützen versteht. Wie alle zur Gattung Mensch gehörenden Individuen ist er ein Säugetier und scheint ein vollkommenes organisches System zu besitzen: eine Wirbelsäule, ein Zungenbein, ein Schulterbein, ein Jochbein; alle Glieder bewegen sich ordentlich in den Gelenken, werden geölt aus den Synovialdrüsen, zusammengehalten durch die Muskeln und Nerven. Der Rentier hat zweifellos Venen und Arterien, ein Herz und Lungen. Er nährt sich von Gemüsen, von gerösteten oder gebackenen Ceralien, verschiedenen Fleischsorten oder gefälschter Milch von Tieren, die der städtischen Verzehrungssteuer unterworfen sind. Allein trotz den hohen Preisen dieser Nahrungsmittel, die eine besondere Eigentümlichkeit unserer Stadt Paris sind, hat sein Blut weniger Aktivität als das der andern Gattungen.

      Er weist noch andere bemerkenswerte Abweichungen auf, die seine Einordnung in eine besondere Klasse nötig machen. Sein Gesicht ist bleich, oftmals wulstig und ohne Eigenart, was auch eine Eigenart ist. Die wenig beweglichen Augen haben den stumpfen Ausdruck jener toten Fische, die im Schaufenster von Chevet ausgestreckt auf Petersilie liegen. Der Haarwuchs ist spärlich, das Fleisch zäh, die Organe sind träge. Der Rentier besitzt gewisse narkotische Eigenschaften, höchst wertvoll für die Regierung, die sich denn auch seit fünfundzwanzig Jahren um die Erhaltung und Fortpflanzung dieser Gattung außerordentlich angestrengt hat: in der Tat ist es für jedes Individuum aus dem Stamme der Künstler, dem unbezwingbaren Geschlechte, mit dem jene stets auf Kriegsfuss leben, schwer möglich, nicht einzuschlafen, wenn es einen Rentier reden hört; seine langsame Sprechweise, sein stupider Ausdruck und sein jeder Bedeutung entbehrendes