kritisch zu betrachten und die derzeit wieder (etwa durch Terrorismus oder erstarkenden Rechtsradikalismus) in Gefahr stehenden Freiheiten der Moderne in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu ergründen, zu verstehen und letztlich zu verteidigen. Denn das, was damit verteidigt wird, ist auch eine moralische Ordnung, die viele unserer geschätzten Werte erst ermöglicht – so zumindest der Sozialphilosoph Wolfgang Kersting (2012, S. 24), der wortstark in seiner Auseinandersetzung mit den ethischen Perspektiven der Marktwirtschaft formuliert:
»Die Marktwirtschaft ist nicht nur das effizienteste System der Ressourcenverwertung und Güterversorgung. Der Markt ist auch eine wertverwirklichende, eine moralische Ordnung. Er ist eine Schule der Selbstverantwortung und planenden Rationalität, der Anpassungsfähigkeit und der Selbsterweiterung; er verlangt eine stete Bereitschaft zum Umlernen und zur Weiterbildung; er fordert Offenheit fürs Neue; auf der anderen Seite aber prämiert er Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Er fördert somit die Entwicklung fundamentaler menschlicher ethischer Einstellungen und kognitiver Kapazitäten. Er führt zur Mehrung des Wohlstandes und zu einer steten Verbesserung des allgemeinen Versorgungsniveaus. Er ist die menschlichste, weil endlichkeitsbewussteste Veranstaltung; denn Endlichkeit bedeutet Knappheit; Knappheit verlangt klugen Einsatz der Ressourcen, der Rohstoffe, der Arbeit und des Wissens. Kein anderes Wirtschaftssystem garantiert einen effizienteren Einsatz materieller und immaterieller Produktionsmittel. Insofern ist der Markt institutionalisierte Menschenliebe […]. Der Markt ist struktureller Altruismus; um meine eigene Nutzenposition zu verbessern, muss ich anderen die Verbesserung ihrer Nutzenposition ermöglichen.«
Gliederung und Überblick
Das Buch versammelt Beiträge, die ich seit etwa 2010 verfasst habe, die teils bereits publiziert und für diesen Band überarbeitet wurden oder bisher nur online zugänglich waren. Die Texte sind in sieben Kapiteln angeordnet und werden von sozial- und gesellschaftstheoretischen Thesen im ersten und siebten Kapitel eingerahmt.
Im ersten Kapitel geht es zunächst darum, zwei gegensätzliche sozialphilosophische Strömungen, nämlich den Marxismus und den Neoliberalismus, zu kontrastieren. Überraschend mag dabei vielleicht erscheinen, dass die marxistische und die neoliberale Auffassung in einer zentralen Position einig sind, dass nämlich die Wirtschaft das wichtigste gesellschaftliche System sei. Um die Soziale Arbeit als gesellschaftliches System passend zu verorten und ihre Funktion entsprechend einzuschätzen, ist es notwendig, diese Sichtweise zu erweitern, und zwar um einen durch die soziologische Systemtheorie informierten komplexen Liberalismus. Wer komplex und liberal zugleich denkt, sieht nicht nur die Eigendynamik der Wirtschaft, sondern auch die Freiheiten der anderen Funktionssysteme der Gesellschaft (etwa der Wissenschaft, des Rechts, der Kunst, der Erziehung, der Politik oder der Religion), die es im Verhältnis zur Sozialen Arbeit zu beschreiben und zu erklären gilt.
Mit dem zweiten Kapitel wird ein Interview präsentiert, das ich einem Vertreter radikal-liberaler Anschauungen gegeben habe und das die These des komplexen Liberalismus weiter differenziert. Allerdings war der mich interviewende Journalist von meinen Antworten enttäuscht; sie waren ihm zu kompliziert, offenbar zu voraussetzungsvoll und in ihrer Differenziertheit nicht eindeutig genug. Daher wurden sie in dem Online-Medium, für das sie ursprünglich vorgesehen waren, nicht publiziert. Einfacher ist ein komplexer Liberalismus jedoch nicht zu haben.
Im dritten Kapitel werden liberale Positionen mit der methodischen Praxis der Sozialen Arbeit zusammengeführt. Ausgehend von einer Verhältnisbestimmung von Grundaxiomen der Systemtheorie (etwa der Nichtsteuerbarkeit nichttrivialer Systeme) mit zentralen Thesen des Liberalismus (etwa der spontanen Ordnungsbildung), wird die sozialprofessionelle Hilfe anhand liberaler Normen gemessen. Eine zentrale Frage ist hier, wie das Verhältnis von Freiheit und Abhängigkeit in sozialarbeiterischen Handlungsfeldern gestaltet wird und ob es gelingt, die Fremdhilfe dem normativen Ziel zuzuführen und mehr und mehr in individuelle und lebensweltliche Selbsthilfe überzugehen.
Mit dem vierten Kapitel wird mein Ansatz einer kritischen Sozialen Arbeit 3.0 veranschaulicht. Im Gegensatz zur kapitalismuskritischen Sozialen Arbeit 1.0 und der ökonomiekritischen Sozialen Arbeit 2.0 meint meine Variante einer kritischen Sozialen Arbeit eine selbstreflexive Systemkritik. Ausgehend von dem normativen Ziel, dass eine Soziale Arbeit fallbezogen erst dann erfolgreich ist, wenn sie sich überflüssig machen kann, werden drei Systemverhältnisse der Sozialen Arbeit kritisiert und zumindest im Denken für eine Neujustierung geöffnet: das Verhältnis der Sozialen Arbeit zur Politik, zum Recht und zur Ökonomie. Damit wird das eingefordert, was auch in den klassischen Varianten der kritischen Sozialen Arbeit postuliert wird: mehr Autonomie für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in der Gestaltung ihrer professionellen Praxis.
Das fünfte Kapitel präsentiert eine Neubewertung der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit. Ausgehend von der These, dass angesichts der aktuellen sozialwirtschaftlichen Steuerungsregularien für sozialarbeiterische Organisationen nicht die Arbeit an Problemlösungen attraktiv ist, sondern die Ausweitung der Problembearbeitung, wird provokativ für mehr kapitalistische Ökonomie in der Sozialen Arbeit argumentiert. Damit ist gemeint, dass wir die ökonomischen und finanziellen Anreizstrukturen ernst nehmen sollten, um zu schauen, nach welchen Regeln die Sozialwirtschaft finanziert werden sollte, damit sich tatsächlich Lösungsdynamiken und nicht Problemverfestigungen in den professionellen Hilfebeziehungen (auch über entsprechende Anreize) entfalten können. Diese Anreize sollten jedoch nicht auf die Nutzerinnen und Nutzer bezogen sein, sondern auf die Interaktionen und Organisationen der Sozialen Arbeit.
Im sechsten Kapitel setze ich meine im fünften Kapitel referierten Thesen der fundamentalen und streitbaren Kritik von Markus Eckl aus. Der Sozialpädagoge und Soziologie Eckl durchleuchtet meine liberalen Anschauungen, seziert sie mit einem feinen Gespür für Probleme in der Argumentation und für eine vielleicht immer noch nicht komplex genug gedachte wirtschaftliche Dynamik, in der freilich auch die Soziale Arbeit steht. Bei diesem kritischen Dialog wird bestenfalls deutlich, was Möglichkeiten und Grenzen einer liberal konzipierten Sozialen Arbeit sind und an welchen Stellen der kritische Diskurs weiter und tiefer gehen muss.
Abschließend wird mit dem siebten Kapitel ein basaler Rahmen für alle liberalen Bestrebungen vorgeführt, nämlich Karl Poppers Position einer offenen Gesellschaft. Die offene Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem (post)moderner Liberalität, das es angesichts aller rechten, linken und fundamentalistisch geprägten Feinde der Freiheit, der individuellen und sozialen Selbstbestimmung zu verteidigen gilt. Da der Begriff der »offenen Gesellschaft« häufig als Worthülse in Sonntagsreden verwendet wird, verschaffe ich einen tieferen Einblick in diese Gesellschaftauffassung. So werden die Bestimmungsmerkmale offener im Gegensatz zu denen geschlossener Gesellschaften skizziert. Zudem wird die soziologische Systemtheorie herangezogen, damit auch Poppers Konzept aus der Mitte des 20. Jahrhunderts mit einigen Fragen konfrontiert wird, die sich der Liberalismus heute zu stellen hat.
1Zwischen Marxismus und Neoliberalismus – Für einen komplexen Liberalismus
1.1Ausgangspunkte
Es gibt zwei sozialphilosophische Anschauungen zum Charakter der modernen Gesellschaft, die als äußerst gegensätzlich gelten, die aber dennoch in einem Punkt einig sind, nämlich darin, dass die Ökonomie die bestimmende gesellschaftliche Kraft sei. Diese Anschauungen sollen hier vereinfachend als »Marxismus« und »Neoliberalismus« bezeichnet werden – vereinfachend ist dies deshalb, weil es weder den Marxismus noch den Neoliberalismus gibt.