inzwischen weltweit in jeweils unterschiedlicher funktionssystemischer Weise entfaltet. Beobachtbar ist damit auch, dass wir nicht (mehr) im Kapitalismus, nicht (mehr) in einer wirtschaftlich dominierten Gesellschaft leben, sondern in einer vielgestaltigen, einer komplexen Sozialwelt, die wie von der Wirtschaft ebenso abhängig ist von der Wissenschaft, der Politik, dem Rechtssystem, der Bildung/Erziehung, den Massenmedien oder der Sozialen Arbeit. Diese Gesellschaft lässt sich nicht zentral steuern, sondern ist hinsichtlich der Effekte, die durch die Funktionssysteme permanent sichtbar werden, in einer strukturell ambivalenten Gestalt. Nichts ist mehr eindeutig bewertbar, sondern erscheint aus unterschiedlichen Perspektiven sehr unterschiedlich. Was für die einen als Problem bewertet wird, scheint für die anderen die Lösung zu sein.
1.5Soziale Arbeit als gesellschaftliches System
In der modernen Gesellschaft entwickelt auch die Soziale Arbeit eine funktionssystemische Eigendynamik. Das bedeutet, dass das professionelle, mithin berufsmäßig ausgeführte, wissenschaftlich reflektierte, sozialpolitisch gewollte, rechtlich gerahmte und wirtschaftlich sich rechnende Helfen ebenfalls einen autonomen Charakter bekommt (siehe dazu grundlegend Baecker 1994). Freilich zeigen sich immer noch vormoderne Hilfeformen, die wichtig bleiben, für Menschen existenzerhaltend und auch für die Soziale Arbeit zielorientierend sind, etwa die gegenseitige Hilfe unter Familienmitgliedern oder unter Freunden sowie die moralisch motivierte Hilfe zwischen Fremden. Diese Hilfeformen finden jetzt in einem Kontext statt, in dem mit professioneller Hilfe gerechnet wird, die eben nicht auf Gegenseitigkeit oder auf moralischer Motivation beruht, sondern die rechtlich konditioniert, wirtschaftlich organisiert, wissenschaftlich fundiert und sozialpolitisch verankert ist.
Damit bringen wir sogleich zum Ausdruck, dass funktionssystemisches Helfen von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft abhängig ist, aber eben nicht von ihnen determiniert werden kann. Um nur ein Beispiel zu nennen, das zumeist in Kontexten eine Rolle spielt, in denen die vermeintliche Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit kritisiert wird: Dieses Helfen muss sich rechnen, muss wirtschaftlichen Effizienzkriterien gehorchen. Demnach können wir freilich die Hilfeleistung selbst, insbesondere das Personal, das dafür bezahlt wird, sowie die Zeit, die dafür aufgebracht werden muss, kurz: das Geld, das dafür investiert wird, als knapp bewerten. Denn dieses Geld muss irgendwoher kommen, muss erwirtschaftet werden und über Steuereinahmen bzw. Transferleistungen oder über Sponsoring und Spenden der Sozialen Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Sodann gilt es, das Geld so einzusetzen, dass es der gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit am ehesten dienlich ist, dass es Hilfen fördert, die die Selbsthilfekräfte der Menschen stärken, wirtschaftliche Anreize für die Akteure und Organisationen tatsächlich so setzt, dass sie an diesem Erfolg und nicht an der permanenten Ausweitung der Hilfsbedürftigkeit arbeiten (weiterführend dazu Kleve 2015a).
Soziale Arbeit, und dies soll hier ausdrücklich festgehalten werden, stimmt mit ihren ethischen und fachlichen sowie ihren sozialrechtlich kodifizierten Zielsetzungen mit dem Freiheits- und Autonomiebegriff des Liberalismus, sogar mit seiner radikalsten Ausprägung, dem Libertarismus, grundsätzlich überein. Murray Rothbard (1973, S. 133), vielleicht der konsequenteste libertäre Freiheitsdenker der USA, formuliert dies deutlich, wenn er schreibt, dass das klassische Ziel von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ein »libertäres« sei, dass nämlich
»die Hilfe […] den Empfängern helfen [solle], so schnell wie möglich unabhängig und produktiv zu werden«.
Zudem sei das Ziel des radikalen Liberalismus, auf den Staat so weit wie möglich zu verzichten, sodass
»alle Unterstützungen und Wohlfahrtszahlungen […] freiwillig und durch private Organisationen geleistet und nicht durch staatlich erhobene Zwangsabgaben« (ebd.)
realisiert werden. Hier hat der komplexe Liberalismus der Systemtheorie freilich eine andere Position, er sieht den Staat und seine Leistungen als evolutionäre Errungenschaften der Gesellschaftsentwicklung.
Letztlich ist der Libertarismus, insbesondere seine anarcho-kapitalistische Variante, für die Rothbard steht, wie der Neoliberalismus eine wirtschafts- bzw. kapitalismusorientierte Sozialphilosophie, die alles dem Ökonomischen unterordnet. Genau hier bietet der komplexe Liberalismus der Systemtheorie eine differenziertere Perspektive an. Sie geht darauf anzuerkennen, dass die autonome Individualität der Menschen in der Gesellschaft auf der Parallelität von zahlreichen Funktionssystemen mit ihren Eigendynamiken fußt. Soziale Arbeit kann selbst als ein solches Funktionssystem bewertet werden, das sich jedoch aufgrund derjenigen Probleme etabliert, die die klassischen Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung/Erziehung etc. nicht, nicht mehr oder noch nicht lösen können (Kleve 2007a, b). Soziale Arbeit entspringt zudem der Perspektivenvielfalt der funktionssystemisch dynamisierten Moderne, weil alles, was hier als Lösung daherkommt, zugleich Probleme sichtbar werden lässt, die nachfolgende Lösungen erfordern. Die Sichtbarmachung solcher Probleme und die Aktivierung dafür geeigneter Lösungen wären zwei Aufgaben der Sozialen Arbeit in der komplexen Gesellschaft.
2Soziale Arbeit und komplexer Liberalismus – ein Interview
Dieses Gespräch entstand mit einem Vertreter radikal-liberaler Positionen und war eigentlich für eine Publikation im Internet gedacht. Jedoch erschienen dem Interviewer meine Antworten zu komplex, sodass er auf eine Publikation auf seiner Plattform verzichtete. Auch der Liberalismus ist im Verhältnis zur Sozialen Arbeit nicht unterkomplex zu haben. Wer komplex liberal denken will, dem bleibt nichts anderes übrig, also sich die Mühe zu machen, genau zu unterscheiden. Das folgende Interview kann bestenfalls genau dies veranschaulichen.
Herr Kleve, Sie dozieren u. a. über die Soziale Arbeit.
Das machen viele. Sie haben aber eine nette kleine Eigenheit:
Sie stehen dem freien Markt nicht ganz so feindlich gegenüber wie zahlreiche Ihrer Kolleginnen und Kollegen. Warum?
So einheitlich, wie Sie das andeuten, ist das Bild in der Sozialen Arbeit nicht. Es lassen sich durchaus sehr unterschiedliche Antworten hinsichtlich der Frage vernehmen, in welchem Verhältnis Marktwirtschaft und Soziale Arbeit zueinander stehen bzw. stehen könnten oder stehen sollten. Manche Kolleginnen und Kollegen fordern durchaus mehr Markt, um diejenigen in ihrer Nachfrageposition zu stärken und sie tatsächlich in die Kundenrolle zu führen, die als Nutzerinnen und Nutzer auf professionelle Hilfen der Sozialen Arbeit angewiesen sind. Kunde ist im aktuellen System der Sozialen Arbeit jedoch tendenziell der Staat – in Form der sogenannten öffentlichen Träger (z. B. Jugend-, Sozial-, Gesundheitsamt oder Arbeitsagentur). Die Nutzerinnen und Nutzer Sozialer Arbeit sind in Klienten- und eben nicht in Kundenrollen.
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