Neutralität anzuvertrauen.
Für Pilet-Golaz lassen die von der Nachrichtensektion festgestellten französischen Truppenkonzentrationen an der Westgrenze auf die Furcht Frankreichs «vor einem deutschen Überfallangriff auf die Schweiz schliessen.» Guisan und Pilet sind sicher, dass die auf Verteidigung eingestellte französische Armee unsere Neutralität respektieren wird. Wie Minger nimmt er an, dass die «internationale Situation sich sehr rasch verschlimmern werde». Im Gegensatz zu Aussenminister Motta glaubt Pilet nicht an eine Verständigung zwischen London und Berlin in letzter Minute. Einmütig beschliesst der Bundesrat die sofortige vollständige Mobilmachung der Armee.
Im Anschluss an die Bundesratssitzung werden dem General die Instruktionen der Regierung für seine Aufgaben als Oberbefehlshaber ausgehändigt. Er hat die «Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Landes mit allen möglichen militärischen Mitteln zu schützen». Alle seine Massnahmen soll er «unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Neutralität treffen». Die Instruktionen halten deutlich fest, dass «das Recht der Kriegserklärung und des Friedensschlusses» ebenso wie der «Abschluss von Allianzen» beim Bundesrat bleibt.
430 000 Mann Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige rücken tags darauf geordnet und ohne wesentliche Komplikationen ein. Für ein Land von wenig über 4,2 Millionen Einwohnern ist dies eine enorm umfangreiche Armee. Die Schweiz ist auf einen Krieg vorbereitet, das Volk geeint, die aufgebotenen Soldaten entschlossen, ihre Pflicht zu tun:
Samstag, den 2. September 1939. 7.00 Erster Mobilmachungstag. Die Armee rückt ein. An einem solchen Tag keinen Waffenrock anziehen zu dürfen, ist grenzenlos, unsäglich bitter.
Dies schreibt Markus Feldmann in sein Tagebuch. Der einflussreiche Nationalrat und Chefredaktor der Neuen Berner Zeitung ist wegen Herzschwäche dienstuntauglich.
Kanonier Max Frisch, im Privatleben Architekturstudent und angehender Schriftsteller, hat durch Glockengeläute erfahren, dass auch er an die Grenze muss. Sein Einrückungsort liegt «am andern Zipfel unseres Landes», im Tessin:
Wir fahren durch die Nacht; die Fenster sind nun schwarz, als führe man durch einen endlosen Tunnel. Auch hier scheint eigentlich niemand überrascht, nur ein gewisser Ernst, eine gewisse Bitterkeit ist da, dass es wirklich gekommen ist, wie man dachte. Etliche tun, als schlafen sie. Damit sie die Augen schliessen können. Es ist ein rascher Abschied gewesen. Andere sitzen einfach da, die Ellbogen auf den Knien und blicken auf die Schuhe. Gesungen wird nicht, zum Glück, und man hört auch keine grossen Redensarten. Was will man schon sagen?
Am 1. September, dem Tag des deutschen Einfalls in Polen, sprechen die Botschafter Frankreichs und Grossbritanniens an der Wilhelmstrasse in Berlin vor und fordern die Einstellung der militärischen Operationen und den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen. Einflussreiche Politiker in Berlin, London, Paris und Rom suchen verzweifelt nach einer Verhandlungslösung, um die gefürchtete Katastrophe eines grossen europäischen Kriegs abzuwenden. Der italienische Aussenminister Ciano bemüht sich um die Organisation einer Friedenskonferenz in letzter Minute. Feldmarschall Göring streckt heimliche Friedensfühler nach England aus. Unter dem Druck des Unterhauses bleibt das Kabinett Chamberlain nach kurzem Zögern hart. Man hat 1938 Hitler - Österreich und dann im vergangenen März auch noch die Tschechoslowakei schlucken lassen, obschon der Diktator sein in München gegebenes Wort nicht gehalten hatte. Premier Chamberlain und Ministerpräsident Daladier wollen sich nicht wieder täuschen lassen. Jetzt muss Hitlers neuer Aggression militärisch entgegengetreten werden.
Hitler selber glaubt nicht, dass die Engländer und Franzosen nur wegen Polen einen grossen europäischen Krieg vom Zaune brechen werden. Die beiden Alliierten sind in ihrer Rüstung gegenüber dem Reich zurückgeblieben und haben keine Möglichkeit Polen militärisch wirksam zu unterstützen. Am Abend des 2. September erfährt Hitler von Botschafter Attolico, dass die italienischen Vermittlungsbemühungen gescheitert sind. Frankreich und England wollen nur dann verhandeln, wenn die deutschen Truppen Polen wieder geräumt haben.
Am Samstag, 3. September, um 9 Uhr spricht der britische Botschafter Henderson im Auswärtigen Amt an der Wilhelmstrasse vor. Ribbentrop, der Ungutes ahnt, lässt sich durch Dolmetscher Schmidt vertreten. «Ich muss Ihnen leider im Auftrage meiner Regierung ein Ultimatum an die Deutsche Regierung überreichen», sagt Henderson zu Schmidt: «Wenn die Regierung Seiner Majestät nicht vor 11 Uhr britischer Sommerzeit befriedigende Zusicherungen über die Einstellung aller Angriffshandlungen gegen Polen und die Zurückziehung der deutschen Truppen aus diesem Lande erhalten hat, so besteht von diesem Zeitpunkt an der Kriegszustand zwischen Grossbritannien und Deutschland.»
Dolmetscher Schmidt geht mit dem Ultimatum in der Aktentasche in die Reichskanzlei, wo Hitler und Ribbentrop gespannt auf seine Mitteilung warten:
Ich blieb in einiger Entfernung vor Hitlers Tisch stehen und übersetzte ihm dann langsam das Ultimatum der britischen Regierung. Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille. Wie versteinert sass Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es wieder andere wissen wollten. Er sass völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster geblieben war. «Was nun?» fragte Hitler seinen Aussenminister mit einem wütenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: «Ich nehme an, dass die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden.»
Als Schmidt den im Vorraum von Hitlers Arbeitszimmer wartenden Parteigrössen berichtet, dass in zwei Stunden zwischen England und Deutschland Kriegszustand sein werde, herrschte auch dort Totenstille:
Göring drehte sich zu mir um und sagte: «Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein.» Goebbels stand in einer Ecke, niedergeschlagen und in sich gekehrt, und sah buchstäblich aus wie ein begossener Pudel.
Als das Ultimatum Londons um 12 Uhr mittags abläuft, erklärt sich England im Kriegszustand mit Deutschland. Eine halbe Stunde später empfängt Ribbentrop den französischen Botschafter Coulondre, der ihm das erwartete, auf 5 Uhr nachmittags befristete Ultimatum aus Paris vorliest. Die Antwort der deutschen Regierung auf das Ultimatum ist negativ. Darauf erklärt Coulondre:
Ich habe die schmerzhafte Aufgabe, Sie zu benachrichtigen, dass ab heute, 3. September die französische Regierung gezwungen ist, die Verpflichtungen, die Frankreich gegenüber Polen eingegangen ist und der deutschen Regierung bekannt sind, zu erfüllen.
«Gut», antwortet Ribbentrop mit tonloser Stimme, «Frankreich wird der Aggressor sein». «Die Geschichte wird urteilen», antwortet Coulondre und zieht sich zurück.
2. Einziger Romand im Bundesrat
Am Abend jenes schicksalsschweren Sonntags, 3. September, setzt sich Bundesrat Pilet in seiner Berner Wohnung am Scheuerrain 7 an den Schreibtisch, um seinem Waadtländer Landsmann General Guisan einen warmen Glückwunschbrief zu schreiben.
Obwohl erst 49-jährig, ist Marcel Pilet-Golaz nach dem schon 1911 gewählten Doyen, dem Tessiner Giuseppe Motta, der amtsälteste Bundesrat. Er gehört seit 1929 der obersten Landesbehörde an, zuerst als Vorsteher des Departements des Innern und dann, während eines vollen Jahrzehnts als derjenige des Post- und Eisenbahndepartements. Die Kollegen respektieren ihn wegen seines Allgemeinwissens, seiner raschen Auffassungsgabe, seiner juristischen Kenntnisse, seiner sprachlichen Fertigkeit. Auch wegen seines Waadtländer bon sens. Diejenigen, die ihn näher kennen – und das sind nicht viele – schätzen seine Loyalität und seine menschliche Wärme, die er allerdings gut verbirgt. Zu den Personen, denen er vertraut und die ihm vertrauen, gehören vor allem alte Kollegen aus der Studentenverbindung Belles-Lettres oder dem Advokatenstand, politische Kampfgefährten aus der Waadt oder ehemalige Dienstkameraden. Die Bundesratskollegen Rudolf Minger und Philipp Etter, wohl auch Hermann Obrecht, schätzen ihn als Freund. Mit ihnen und mit Ernst Wetter ist Pilet per Du, mit den älteren Motta und Baumann per Sie.
Pilets selbstsicheres, gelegentlich überhebliches Wesen, seine Ungeduld mit schwerfälligeren Geistern