Inflation in erträglichen Grenzen halten. Er denkt sich Sparmassnahmen und neue Steuern aus, von denen er annehmen kann, dass sie sowohl von der Rechten wie von der Linken geschluckt werden. Als ehemaliger Handelslehrer kann er rechnen, als langjähriger Delegierter des «Vororts», wie der Schweizerische Handels- und Industrieverein gemeinhin genannt wird, hat er beste Beziehungen zu Zürcher Finanz- und Wirtschaftskreisen.
Für Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Lande, für die Sicherung der Rechte und Freiheiten des Bürgers ist theoretisch Justiz- und Polizeiminister Johannes Baumann verantwortlich, doch in der Praxis tut dies jetzt die Armee. Der brave frühere Landammann von Appenzell-Ausserrhoden hat nicht die Statur seines Vorgängers Heinrich Häberlin, des «Gewissens des Bundesrats». Baumann hat die undankbare Aufgabe, sich in Zensurfragen mit der vielgestaltigen, unabhängigen und oft kritiksüchtigen Presse herumzuschlagen. Die wichtige Flüchtlings- und Fremdenpolitik fällt in seinen Bereich, wird allerdings faktisch vom Leiter der Polizeiabteilung, dem dominanten Heinrich Rothmund, gemacht. In Fragen des Staatsschutzes vertraut er auf seine Chefbeamten, Bundesanwalt Stämpfli und Bundespolizeichef Balsiger.
Und Pilet, der Vorsteher des PED, des Post- und Eisenbahndepartements? Er hat seine Abteilungen minuziös auf den Krieg vorbereitet. Die Pläne für den Mobilisationsfall sind ausgearbeitet und können sofort in Kraft treten. Die Verwaltung von Post, Telefon und Telegraf, die in der Schweiz ohnehin besser funktionieren als anderswo, ist für den Ernstfall gewappnet. Massnahmen für eine vorsichtige Überwachung von Postsendungen und Telefongesprächen sind – mehr oder weniger heimlich und ohne solide Verfassungsgrundlage – bereits in Kraft. Die verschiedenen Ämter im Departement Pilet können auch mit einem wegen der Generalmobilmachung beschränkten Personalbestand ihre Aufgabe erfüllen. Auf den 2. September tritt provisorisch ein Kriegsfahrplan in Kraft. Pilet übernimmt die im Mobilmachungsfall vorgesehene Kontrolle des Radios, das in den letzten zehn Jahren als Unterhaltungs-, Informations- und vor allem auch Propagandamedium eine ungeahnte Bedeutung erlangt hat.
Der Schweizer Bundesrat ist eine Kollegialbehörde, und jedes Mitglied trägt für alle von ihm getroffenen Entscheide die Mitverantwortung. Mehr als seine Kollegen Bundesräte kümmert sich Pilet um die juristische und sprachliche Sauberkeit von Bundesratsbeschlüssen. Er misstraut allzu eifriger Betriebsamkeit und wird nicht müde, vor überstürztem Handeln zu warnen. Als Waadtländer Pragmatiker sucht er gangbare Lösungen, als eingefleischter Liberaler wehrt er sich gegen eine überflüssige Einmischung des Staats in das Privatleben des Bürgers.
In Pilets Notizen vom 3. September zu seinem persönlichen Gebrauch ärgert er sich über das «Fieber und den Totalitarismus des Generalstabs der Armee», die ihm schon am ersten Tag des deutschen Angriffs auf Polen aufgefallen sind. So wollte der Telegrafenchef der Armee «zweifellos im Auftrag des Unterchefs des Generalstabs Frick», dass die Verwaltung das wichtige Transitkabel Deutschland – Italien durch den Gotthard durchschneide. Haben die unbedarften Militärs denn keine Ahnung, was eine derartig drastische Massnahme wirtschaftlich und politisch bedeuten würde? Pilet befiehlt seinen Beamten, nichts ohne seine Zustimmung zu tun. Er telefoniert Minger, um Einwand zu erheben. Minger muss ihn enttäuschen: Die Armee befiehlt jetzt. Der Militärminister hat «nichts mehr zu sagen». Wenigstens kann Minger Pilet seinen Verbindungsoffizier Major Bracher schicken. Pilet erklärt Bracher, wieso die Durchschneidung des Kabels ein Fehler wäre, und sendet diesen zu Oberst Hans Frick. Mit Erfolg. Wenig später teilt Frick Pilet mit, dass er auf die Massnahme verzichte und «dass das Kabel wiederhergestellt sei». Wiederhergestellt? Pilet notiert spöttisch: «Der Arme: er glaubt, man hätte es durchschnitten!»
In den ersten Tagen nach der Mobilmachung widersetzt sich Pilet anderen unverständlichen Anordnungen oder Wünschen der Armeeleitung. So verlangt das Militär in Basel vierzig Eisenbahnwagen, um Schützengräben zu blockieren. Wissen die nicht, dass alles Rollmaterial gebraucht wird, um die aufgebotenen Truppen zu transportieren! Als Pilet tags darauf an der Bundesratssitzung die Geschichte den Kollegen erzählt, «heben sie die Hände zum Himmel».
Eine militärische Massnahme, die PTT-Generaldirektor Hans Hunziker und Pilet für unsinnig halten, ist das am 3. September verhängte Verbot aller privaten Telefongespräche mit dem Ausland. Schon am nächsten Morgen, einem Montag, klagen Gemüse-, Kohlen- und Getreideimporteure ebenso wie die Betreiber der Rheinschifffahrt, dass sie sich nicht telefonisch im Ausland über den Stand ihrer Transporte erkundigen können. Darauf hebt Hunziker auf eigenes Risiko das Verbot in vielen Fällen auf. Brieflich berichtet er am 6. September seinem Chef Pilet über die Schwierigkeiten, die das hastige Vorgehen der Armeestellen verursacht hat:
Man kann einem Korrespondenzmittel wie dem Telephon nicht ohne nachteilige Folgen Hindernisse in den Weg legen, wenn auf dem ganzen Netz in normalen Zeiten täglich 800 000 und in den Krisentagen, die wir durchleben, 1200 000 Kommunikationen ausgetauscht werden. Da wo militärische Interessen auf dem Spiel stehen, versteht jeder vernünftige Abonnent die auferlegten Einschränkungen – und billigt sie sogar –, aber wenn dies nicht der Fall ist, muss man extrem vorsichtig sein.
Hunziker fügt hinzu, man wundere sich in Mailand darüber, dass der Telefonverkehr zwischen dem nichtkriegführenden Italien und der neutralen Schweiz unterbunden sei, während man aus Italien problemlos via die Schweiz mit den Neutralen Belgien, Holland und sogar mit Grossbritannien, das im Krieg steht, telefonieren könne.
Dank dem Verständnis von Oberst Hasler, dem Chef der «Abteilung Presse und Funkspruch», werden die vom Armeekommando verhängten schädlichen Massnahmen bald wieder aufgehoben. Pilet wird den Militärs und ihrem oft voreiligen Vorgehen gegenüber misstrauisch bleiben.
Die Bundesräte sehen während des im Blitztempo ablaufenden Polenfeldzugs keine direkte Gefahr für die Schweiz. Am 11. September schreibt Bundespräsident Etter seinem mit Schmerzen im Bett liegenden Freund, dem mächtigen Luzerner Nationalrat Heinrich («Heiri») Walther, er solle sich schonen und der Septembersession fernbleiben:
Die Räte werden wahrscheinlich keine weltbewegenden Probleme wälzen. Aussenpolitische Fragen stehen kaum auf der Tagesordnung. Im übrigen gibt es für uns jetzt nichts anderes als ruhig abzuwarten, wie die Dinge auf den Kriegsschauplätzen sich weiter entwickeln. Dauert der Krieg lange, was wahrscheinlich ist, so werden wir erhebliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen müssen, und unser Volk wird inbezug auf die Tragkraft seiner Opferbereitschaft auf eine harte Probe gestellt. Wir wollen hoffen, dass es sich bewähren wird. Psychologisch war es noch nie so gut vorbereitet wie heute. Aber wir werden dafür sorgen müssen, dass die Spannkraft erhalten bleibt.
3. Wie sich vor Spionage und Sabotage schützen?
Im April 1939, wenige Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, lag auf dem Tisch des Bundesrats ein Entwurf einer «Verordnung über die Wahrung der Sicherheit des Landes». Sie sollte in Kriegszeiten Spionage und Sabotage bekämpfen. Im Bundesrat erinnerte man sich an die Zeit zwischen 1914 und 1918, als die Schweiz zu einem europäischen Agentennest geworden war. Mit Beunruhigung hatte man beobachtet, welche perfiden Methoden die Nazis in Österreich und der Tschechoslowakei anwandten, um diese Staaten auszulöschen. Der Bundesrat kannte auch die von Moskau gesteuerten Wühlereien der Kommunisten in Frankreich und Spanien. An der Notwendigkeit einer gegen Extremisten von links und rechts gerichteten Staatsschutzverordnung bestand «kein Zweifel».
So bat denn Bundespräsident Etter seinen Kollege Pilet, den vorgelegten Gesetzesentwurf genau anzuschauen. Pilet, zweifellos der beste Jurist im Bundesrat, war entsetzt über das, was das Militärdepartement ausgebrütet hatte. Am 26. April teilte er Etter in einem vierseitigen Brief seine Bedenken gegenüber den geplanten Staatsschutzmassnahmen mit. Seiner Meinung nach ging die Vorlage in den «Verpflichtungen, die sie den Einwohnern des Landes im Interesse der nationalen Verteidigung auferlegt, sehr weit». Er verstehe dies, glaube aber, dass «gewisse Grenzen nicht überschritten, gewisse Prinzipien respektiert und gewisse Missbräuche vermieden werden müssten.»
Pilet strich im Entwurf mit dem von ihm gerne verwendeten blauen Farbstift vieles durch und formulierte einige Artikel neu. Er wollte die Befugnisse der Armee beschränken und sicherstellen, dass die letzte Verfügungsgewalt beim Bundesrat bleibt:
Es scheint mir gefährlich vorzusehen,