Romand weiss, was darunter zu verstehen ist. Ein Bellettrien ist ein gegenwärtiges oder ehemaliges Mitglied der in vier welschen Kantonen existierenden Studentenverbindung Belles-Lettres. Sie unterscheidet sich von den deutschen Burschenschaften oder deutschschweizerischen Verbindungen – den Zofingern, den Helvetern – durch den esprit romand und eine Abneigung gegen Teutonisches: Es wird nicht geschlagen, kein Comment, kein Fuchsmajor, kein Wichs. Pilet ist als 17-jähriger der Verbindung gegen den Willen seines Vaters beigetreten.
Der von Pilet als Radioreferent vorgesehene Henri de Ziegler singt in seinem Buch «Rouge et Vert ou Eloge de Belles-Lettres» das Loblied seiner geliebten Studentengesellschaft. Rot-Grün sind die Verbindungsfarben (ohne ahistorischen politischen Beigeschmack). Als Bellettrien spottet man über Pedanterie, Wichtigtuerei, Heuchelei. Man singt, lacht, spaziert und diskutiert. Gewisse Werte, schreibt de Ziegler, wird man nie in Frage stellen: «Es sind dies die Liebe und die Jugend, der Wein, die Rose und der Frühling.» Die Menschen ändern sich, aber ein Maiabend ist nicht weniger genussvoll als vor hundert Jahren. «Auch ein schöner Vers nicht, auch ein delikater Gedanke nicht, auch ein geistvolles Wort nicht, auch nicht eine harmonische Landschaft, auch nicht ein charmantes Gesicht.»
Der Geist von Belles-Lettres ist der Geist der Romandie. Mit einem Hauch weniger Talent als der Poet de Ziegler hat Pilet immer wieder versucht, seinen Deutschschweizer Landsleuten und seinen Deutschschweizer Bundesratskollegen die Romandie zu erklären. Vermutlich mit wenig Erfolg. Die Romandie, ebenso wie Belles-Lettres, bleibt für viele confédérés ein Buch mit sieben Siegeln. Weil Marcel Pilet-Golaz in seiner Lebensweise, seiner Mentalität und seinem Sprachgebrauch ein Bellettrien geblieben ist, begegnen ihm manche Eidgenossen auf der anderen Seite des Röstigrabens mit Kopfschütteln. Was in Lausanne politisch ein Vorteil ist, kann in der Deutschschweiz zum Nachteil werden.
Zurück zu den Radiosendungen, die den Schweizern einhämmern sollen, wer sie sind. Was Militärschriftsteller und deutschschweizerische Referenten anbelangt, notiert Pilet «Voir Schenker». Dieser hat seinerseits eine Liste mit 18 Namen aufgestellt – darunter nicht weniger als 15 Professoren. Auf Schenkers Verzeichnis stehen die Namen von Historikern wie Feller, Bonjour, Guggenbühl, Donath, Gagliardi, Nabholz. Wer dann allerdings im Frühjahr 1940 am Radio über Geschichte und Sinn der Schweiz sprechen wird, ist der St. Galler Werner Näf, Professor für allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Sechs magistrale Radiovorträge des hervorragenden Historikers sagen den Zuhörern, worum es für das Land geht:
Wir stehen umringt in einem kämpfenden Europa. Unser Aussenhandel, unsere Landesverpflegung sind schwierig geworden. Dies lastet als Alltagssorge auf uns. Wir haben ihr in kühler Überlegung Rechnung zu tragen. Aber nicht dies wird unser Schicksal entscheiden. Ich weiss aus der Geschichte keinen Fall, dass ein innerlich gesunder, von seinem Volk getragener Staat Leben und Freiheit verloren hätte, nur weil er klein war.
6. «Ein flotter Gruss an unsere Soldaten»
Neben den für die Gesamtbevölkerung bestimmten Radiosendungen sind spezielle Darbietungen «für und von der Truppe» vorgesehen. Eigens für die mobilisierten Soldaten zusammengestellte Programme sollen dem «Wehrmann ein willkommener Ausgleich sein». In einem ausführlichen Exposé legt Hptm. Schenker zuhanden von Pilet dar, wie ein einstündiges Programm für die Truppe aussehen soll, und zwar so genau, dass er die Stunde in achtzehn, auf die Minute festgelegte Segmente unterteilt.
Auf «Marsch, fröhliches Lied» folgt «Dialektvorlesung breiteren Charakters», die eine «fröhliche Stimmung» festigen und eine «traute Atmosphäre» schaffen soll. Weiter geht’s mit «Musikeinlage: Ländlerkapelle», «Eine Bauernfrau erzählt», «Ein einfaches Dialektgedicht», «Ein schönes Lied», «Humoristische Erzählung», «Einige Scherzfragen». Fünf Minuten «Moderne Tanzmusik» befriedigen das Bedürfnis, «wieder einmal andere Tanzmusik zu hören, als sie der Grammophon des ‹Bären› vermittelt». Die Soldaten «begrüssen es, ab und zu mal bekannte Leute zu hören, z. B. Prof. Max Huber, Prof. de Quervain, Kunstflieger Hörning, die Gilberte von Courgenay, den Fussballer Minelli, u.s.w.» «Vaterländische Musik oder Marsch» beenden die Sendung, «gewissermassen ein flotter Gruss an unsere Soldaten».
Pilets Begeisterung für Schenkers geplante Militärsendungen hält sich in Grenzen. Dies zeigen die vielen Fragezeichen, die er mit dickem blauem Farbstift hinter den Entwurf setzt. In einer Notiz vom 2. Oktober an die Generaldirektion der PTT erlässt er dann seine Weisungen bezüglich der Sendungen für und von der Armee. Er will nicht, dass sie ausufern und schreibt deshalb ihre «maximale Zahl und Länge» vor. Weiter betont er: «Wohlverstanden kann keine Rede von einer Vorzensur sein.» Schenkers Programmbeispiele, schreibt Pilet, seien keine «begrenzenden Vorgaben», sondern «Illustrationen der leitenden Denkweise»: «Natürlich werden alle nützlichen Umsetzungen – nicht Übersetzungen oder Deckungsgleichheiten, sondern Analogien – von der welschen und italienischen Schweiz gemacht.» Der Föderalist Pilet will nicht, dass Sottens und Monte Ceneri am Gängelband von Schenker geführt werden.
Nachdem im Oktober die Sendungen für die Truppe angelaufen sind, bittet Pilet seinen im Grenzdienst stehenden Parteifreund Pierre Rochat, Major und Nationalrat, um Auskunft, wie diese Sendungen bei den Soldaten ankommen. Rochat antwortet:
Insgesamt scheint es mir, dass die Truppe diesen Hörbeiträge wenig Interesse entgegenbringt. Was die militärischen Zuhörer von T.S.F. [des französischsprachigen Schweizer Telefonrundspruchs] hingegen interessiert, sind die von der Truppe organisierten Vorstellungsabende. Natürlich möchten alle Verbände ihrerseits vor das Mikrofon kommen!
Im Januar 1940 wird Pilet in einer Notiz an Glogg sein Urteil über die Soldatensendungen abgeben. Generell könne man sagen, sie seien «nicht schlecht, überhaupt nicht, allerdings verbesserungsfähig». Zu wünschen hingegen liessen die Soldatensendungen von Studio Lausanne:
Das Echo, das ich erhalten habe, ist einmütig. Dies ist auch die Meinung der Armee. Die Sendungen haben es dringend nötig, erneuert zu werden und sich nicht auf die Art zu versteinern, die sie angenommen haben. Sie mögen anfänglich ihre Verdienste gehabt und vielleicht einer direkten Zuhörerschaft gefallen haben, aber sie langweilen sehr bald und sind mehr für das Auge als für das Ohr gemacht.
Mindestens jede zweite Woche, ordnet Pilet an, müsse eine «etwas andere, ernsthaftere» Sendung ins Auge gefasst werden: «Man darf sich nicht auf ‹caf.con.› beschränken.» Caf.con. steht für café-concert, eine Art Variétéprogramm, das in der Deutschschweiz unter dem Namen «Bunter Abend» läuft. Für Pilet galt schon bei Belles-Lettres: Unterhaltung ist gut, Kultur ist besser.
Die zeitweise Verstaatlichung des Radios ändert wenig an den Programmen der drei Landessender. Trotzdem sind kantige Persönlichkeiten wie Félix Pommier, Studiodirektor in Genf, und Felice A. Vitali, Studioredaktor in Lugano, über die Unterstellung des Radios unter den Bundesrat ungehalten. In seinen Erinnerungen schreibt Vitali:
Woher der Wind blies, hatten die zum Rapport befohlenen Studiodirektoren schnell genug erfahren. Bundesrat Pilet-Golaz, Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartements, hatte uns mit den Worten empfangen: «Messieurs, vous êtes à moi.»
Für Pilet ist die Suspendierung der SRG-Konzession und die befristete Stilllegung der Studios Zürich, Basel und Genf ein Mittel zur Disziplinierung der eigenwilligen und oft untereinander zerstrittenen Studiodirektoren. In die Programmgestaltung schaltet er sich nur ausnahmsweise ein.
Als Chef duldet Pilet keine Schlamperei oder Nachlässigkeit. Dies erfuhren schon seine Soldaten bei der Grenzbesetzung im Weltkrieg und wissen die Mitarbeiter im Departement. Als er am Mittwoch, 13. September, seinen Radioapparat einschaltet und hört, wie die Abendnachrichten auf Sottens vom Sprecher mit einigen Minuten Verspätung fehlerhaft heruntergehaspelt werden, ruft er die Depeschenagentur (SDA) an, die für die Nachrichtensendungen zuständig ist. Der Mann, der die Nachrichten malträtiert hatte, erklärt ihm, was passiert ist. Man habe ihm plötzlich mitgeteilt, dass keiner der vier oder fünf spezialisierten Sprecher da sei, um sich um die Nachrichten zu kümmern. So habe er es halt gemacht.
Am nächsten Morgen schreibt Pilet dem Direktor der SDA. Die französischsprachigen