nicht geschätzt. Pilets Mitarbeiter kopieren für ihren Chef kritische Zeitungsartikel. So einen aus der Tribune de Genève vom 22. September, in dem sich Pilet den folgenden Abschnitt anstreicht:
Es ist tatsächlich ein offenes Geheimnis, dass seit dem 2. September die Direktoren und die Dienste der Studios von Genf und Lausanne unter dem Befehl von Bern stehen. Das Studio Lausanne besorgt alle Sendungen und das Studio Genf ist im Winterschlaf. Ausser, dass diese Massnahme für Genf schikanös, folglich ungeschickt ist, fragt man sich, welcher strategischen, technischen, administrativen, wirtschaftlichen, künstlerischen und finanziellen Notwendigkeit sie entspricht. Bis zum Beweis des Gegenteils rät uns der simple bon sens zu denken, dass sie keiner von diesen entspricht.
Auch einen Artikel des sozialdemokratischen Nationalökonomen Prof. Fritz Marbach (aus La Lutte syndicale) hat Pilet aufbewahrt. Marbach begreift, dass in Kriegszeiten die Sendestationen den Behörden zur Verfügung stehen müssen. Er kann jedoch nicht verstehen, dass man sie einem eidgenössischen Verwaltungsorgan unterordnet und jeden Kontakt zur Bevölkerung und zu den kulturellen Kreisen abbricht. Damit meint er den von Pilet suspendierten Zentralvorstand der SRG, dem Marbach selber angehört. Seiner Meinung nach wäre es besser und «schweizerischer» gewesen, diesen Vorstand als Beratungsorgan beizuziehen, statt ihn aufgrund der Vollmachten zu entlassen. Die Art, wie die dem Bundesrat vom Parlament gegebenen Vollmachten auf gewissen Gebieten angewandt würden, lasse nichts Gutes erahnen. Jeder Schweizer sei bereit zu tun, was das Vaterland von ihm verlange, aber schweizerische Traditionen sollten berücksichtigt werden.
Der Bürger erträgt die Diktatur des Bundesrats, aber nicht diejenige von Leuten, die zeigen wollen, wo’s langgeht. Die Eidgenossen dies- und jenseits der Saane sind sich in diesem Punkt völlig einig. Es gibt keinen Graben.
Pilet lässt sich von Marbachs Argumenten überzeugen. Der aufgelöste Zentralvorstand wird schon bald wieder tagen.
5. Geistige Landesverteidigung im Äther
Welche Rolle soll dem Radio in einer Zeit der Kriegsbedrohung zukommen? Pilet kann nicht auf die Erfahrungen aus dem Weltkrieg zurückgreifen, denn damals war der Hörfunk Sache einiger weniger Radioamateure und noch kein wichtiges Kommunikationsmittel. Die Praxis im Ausland taugt auch nicht als Leitfaden. In Deutschland steht der Rundfunk unter der Fuchtel des Propagandaministeriums. Der schier allmächtige Dr. Goebbels befiehlt, was gesendet werden muss und was nicht gesendet werden darf. Zusammen mit dem Film, vor allem den Wochenschauen, und der Presse formt der deutsche Rundfunk die öffentliche Meinung im Sinne von Partei und Führer. Aus Überzeugung, Karriereerwägungen oder Furcht spuren die deutschen Journalisten. Von abweichenden Meinungsäusserungen ist keine Rede mehr.
Wie kann die Schweiz der antidemokratischen, antisemitischen aggressiven deutschen Propaganda entgegentreten, die viele als für unser Land existenzgefährdend empfinden? Darüber macht sich der Gesamtbundesrat seit 1934 immer wieder Gedanken. Soll man den Fehdehandschuh aufnehmen, wie dies linke Politiker möchten, und Propaganda mit Gegenpropaganda beantworten? Soll das Schweizer Radio als Sprachrohr für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Völkerverständigung auftreten? Pilet und seine Kollegen haben da eine klare Meinung: David hat gegen Goliath keine Chance.
Aber das Radio kann erklären, was die Schweiz ist. Es kann ihren föderalistischen Staatsaufbau darstellen und diskret andeuten, wie er sich von demjenigen des Dritten Reichs unterscheidet. Es kann auch immer und immer wieder erläutern, was die Schweiz unter Neutralität versteht, und wie sie ihre Rolle in Europa sieht. Pilet will, dass dies nüchtern und unpolemisch geschieht. Es ist sinnlos, die Nazis oder die Faschisten zu reizen. Also keine Schulmeisterei, kein Besserwissertum, keine verbalen Ausfälle gegen die Diktatoren.
Schon am 13. September setzt sich Pilet mit dem Leiter der Radiosektion APF, Hptm. Schenker, zusammen, um allfällige, durch die Kriegsbedrohung und die Mobilisation nötig gewordenen Programmanpassungen zu besprechen. Der Aargauer Kurt Schenker, ursprünglich Jurist, dann Zeitungsjournalist, wurde mit 29 Jahren zum ersten Direktor von Radio Bern gewählt. Er führt es autoritär, aber mit viel Schaffenskraft und Fantasie, und macht es zu einer beliebten, vor allem von den Bernern geliebten Sendeanstalt. Schenker weiss, welche Programme in Bern und der Deutschschweiz beim Publikum ankommen und welche nicht. Reklamationen sind, wie er einmal schreibt, sein täglich Brot.
Geplant ist ein «nationales Programm», eine Gemeinschaftssendung für alle Landesteile. Als Vorbereitung auf das Gespräch mit Schenker macht Pilet sich Notizen. Sieben Themenkreise fallen ihm ein: 1. Schweizer Geschichte. 2. Schweizer Militärgeschichte. 3. Biographien von Schweizer Bürgern. 4. Schweizer Literatur. 5. Schweizer bildende Kunst. 6. Schweizer Musik. 7. Schweizer Wirtschaft. Spontan notiert sich Pilet die Namen von welschen Kapazitäten, oft auch von persönlichen Freunden, als mögliche Referenten.
Zur Erläuterung der Schweizer Geschichte will er zwei ihm persönlich gut bekannte, ehrwürdige Lausanner Historiker heranziehen, den 68-jährigen Maxime Reymond und den 74-jährigen Edmond Rossier. Reymond ist Waadtländer Kantonsarchivar, Redaktor am Feuille d’Avis de Lausanne und freisinniger Grossrat. Seine monumentale dreibändige «Histoire de la Suisse», «von den Anfängen bis heute», ist ein Standardwerk, klug und flüssig geschrieben, in einem Stil, der sich auch für den mündlichen Vortrag eignet. Pilet muss gefallen haben, was Reymond über die Ausübung des Vollmachtenregimes durch den Bundesrat im Krieg 1914–1918 schrieb:
Diese starke Regierung – stark, weil sie mit ihren wesentlichen Schattierungen die Gesamtheit des Schweizervolks widerspiegelte — konnte handeln und anordnen. Aber wir haben deswegen nicht unsere demokratischen Prinzipien, die wir von den Schweizern von 1291 her haben, aufgeben wollen. In entscheidenden Tagen haben sich diese [demokratischen Prinzipien] als eine Macht erwiesen, die sich einwandfrei mit einer klarsichtigen und sicheren Leitung vereinbaren lassen.
Die im September 1932 geschriebenen Worte Reymonds könnten auf die Gegenwart, auf September 1939, gemünzt sein. Pilet hätte sie vermutlich tel quel unterschrieben.
Der zweite, von Pilet als französischsprachiger Radioreferent vorgesehene Historiker ist Edmond Rossier. Der Ordinarius für Zeitgeschichte an der Uni Lausanne ist Verfasser einer «Histoire politique de l’Europe 1815–1919» und regelmässiger aussenpolitischer Kommentator der Gazette de Lausanne. Pilet, der als Student Rossiers Vorlesungen hörte, schätzt seine klaren, wöchentlichen Analysen des Weltgeschehens. Obwohl gemässigt in der Wortwahl, nimmt «Edm. R.», kein Blatt vor den Mund. Am Tag nach Kriegsausbruch, am 4. September 1939, schreibt er im Leitartikel der Gazette:
Es ist sicher, dass die Affäre von Danzig auf keine Weise den Waffengang rechtfertigt, der sich auf ganz Europa ausbreitet. Wie leicht wäre es gewesen, die Frage mit ein wenig gutem Willen zu lösen! Das Unglück will es, dass das Los der Stadt an das Prestige eines Mannes gebunden ist, der, von den Ereignissen verwöhnt, neue Triumphe begehrt. Und es ist nun so weit gekommen, dass dieser Mann, dessen hohe Stellung an der Spitze eines Staates eine Gefahr darstellt, es erreicht hat, eine grosse Nation in seinem Kielwasser mitzureissen – eine grosse und starke Nation, die sich gehorsam bückt. Das Schlimmste daran: Das hitlersche Deutschland, das im Namen des Lebensraums oder ich weiss nicht welcher Vorstellung von Ehre, seinem Führer folgt, ist eine Gefahr für das freie Leben der Völker, für die Struktur des Kontinents überhaupt geworden.
Auch die anderen Männer – alles Männer, keine Frauen –, die Pilet Schenker als Referenten für das nationale Programm vorschlägt, sind Persönlichkeiten, die in der Romandie geschätzt werden, wenigstens von der bürgerlichen Mehrheit. Die Themen «berühmte Schweizer» und «Schweizer Literatur» sollen bekannte Schriftsteller behandeln. Pilets Liste sieht so aus:
Robert de Traz? – Henri de Ziegler – Charly Clerc – Chaponnière – Savary – Denis de Rougemont? – Grellet.
Der feinsinnige Dichter Henri de Ziegler, Genfer Professor für italienische Literatur, und Charly Clerc, ETH-Professor für Literatur, setzen sich für den Kulturaustausch zwischen den Sprachregionen ein. De Traz und de Rougemont, zu denen Pilet Fragezeichen setzt, sind berühmte, allerdings umstrittene Intellektuelle von europäischem Ruf. Pierre Grellet und Léon Savary, einflussreiche Bundeshauskorrespondenten