Annemarie Bauer

Im Bauch des Wals


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Formulierungen würden wir das so ausdrücken: Das menschliche Gehirn benötigt zu seiner Entwicklung spezifische Außenreize, wie sie von Artgenossen erzeugt werden können. Nur wenn das wachsende Gehirn ausreichend mit solchen Reizen versorgt wird, kann es sich gesund entwickeln.

      Wer kleine Kinder beobachtet, erkennt deutlich, wie sehr sie die periodische Annäherung an einen einfühlenden, auf sie bezogenen Erwachsenen (das „Objekt“) benötigen. Das kindliche System entwickelt sich optimal, wenn es sich in Krisensituationen an ein erwachsenes System annähern und mit ihm kommunizieren kann. Unter diesen Bedingungen werden die inneren Reize in dem kindlichen System nicht so bedrohlich, dass sozusagen Notmechanismen entwickelt werden müssen, um sie unter Kontrolle zu bringen.

       Weder Nesthocker noch Nestflüchter

      Biologisch ist der Mensch weder Nesthocker noch Nestflüchter, sondern ein Kontaktwesen; die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme ist beim Säugling am weitesten entwickelt, und sein Angewiesensein auf Versorgung parallel zur relativ hohen Ausreifung des kindlichen Organismus (wenn wir ihn mit typischen „Nesthockern“ vergleichen) scheint das eindrucksvollste Merkmal der Primaten.

      Für den kindlichen Organismus geht es anfänglich sehr schnell um Leben oder Tod. Das Ich ist noch wenig entwickelt; es kann sehr viele Reize nicht einordnen. Der herzzerreißenden Not, die wir aus dem Schreien des Säuglings herauszuhören meinen, entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende innere Bedrohung. Das kleine Kind kann die eigenen Affekte, die eigenen Reaktionen von Wut, Angst, Trauer, Schmerz nicht einordnen und nicht bewältigen, wenn es nicht von jemandem begleitet und getröstet wird.

      Vielleicht haben die Menschen unter weniger differenzierten gesellschaftlichen Umständen die Verinnerlichung eines solchen Systems nicht so sehr gebraucht. Wer als Jäger und Sammlerin in der Steppe lebt und jeden Tag nach Essen, Wasser und Schutz vor Raubtieren suchen muss, ist längst nicht so darauf angewiesen, emotionale Reize zu verarbeiten und zwischen unterschiedlichen Erlebnis- und Reaktionsformen zu wählen. Er muss und darf immer sofort mit einer körperlichen Aktion reagieren, durch die seine affektiven Spannungen abgebaut werden. Wo es auch im Alltag schnell um Leben oder Tod geht, ist nicht mehr psychisch auffällig, wer einen Streit mit dem Ehepartner, eine Kränkung beim Warten in einer Schlange oder einen abweisenden Gesichtsausdruck der Kollegin als eine Frage um Leben oder Tod auffasst und inszeniert.

       Das „ältere Menschtum“ in der Hysterie

      Freud sagte über die Hysterie, dass sich hier „älteres Menschtum“ darstelle. Ergänzend lässt sich über Menschen mit narzisstischen Störungen sagen, dass sie in ihrem Leben sehr oft daran scheitern, dass ihre psychische Organisation einer modernen Gesellschaft mit ihren Brechungen des unmittelbaren emotionalen Auslebens durch Vernunft, Disziplin, Höflichkeit, Ironie und Humor nicht standhalten kann. Manchmal helfen ihnen Drogen zu einer funktionierenden Fassade. Doch ist dieser Gewinn an Stabilität teuer erkauft.

      Normalerweise schreitet das seelische System von einfacheren zu komplexeren Formen fort. Wenn die komplexeren Formen nicht zustandekommen, kann die Psyche ihre Tätigkeit nicht einfach einstellen. In diesem Fall würden Betroffene in ein Koma fallen und sterben. Eine Lösung des Problems unserer hohen seelischen Organisationsmöglichkeiten und entsprechend zahlreichen Störungsrisiken ist die Regression. Das seelische System funktioniert wieder primitiver, als es seinem Alter angemessen ist. Der Betroffene regrediert ganz oder teilweise, d. h. es gibt sein optimales Funktionieren auf, weil die damit verbundenen gesteigerten Anforderungen an die Reizverarbeitung nicht geleistet werden können.

      Eine Form der Regression ist z. B. die Klage über schlechte Versorgung durch Vorgesetzte, Ehepartner oder Freunde. Das seelische System stellt seine Tätigkeit partiell ein, versinkt in einem komatösen Zustand und bejammert die damit verknüpften Ausfälle an Entwicklung und Befriedigung. „Immer muss ich meine Freunde anrufen, meine eigene Frau redet ja nicht mit mir!“ „Wenn mich mein Mann lieben würde, hätte er doch nicht verlangt, dass ich meinen Beruf aufgebe.“

      Die seelische Stabilität des Erwachsenen hängt damit zusammen, dass er seine Antriebe, die Umwelt neugierig zu erforschen und sie seinen Bedürfnissen entsprechend zu verändern, dank eines ausreichenden Reizschutzes durch ein hinreichend einfühlendes Objekt entwickeln konnte. Sie erfordert aber weiterhin, dass er eine Fantasie von Austausch verinnerlicht hat, durch den der Reizschutz eine stabile soziale Qualität gewinnt: Der Erwachsene ist von einem Netz von Freunden, Bekannten, Kollegen umgeben, die es ihm ermöglichen, in Krisen seines Selbstgefühls Hilfe zu finden, indem er anderen in deren Krisen Hilfe gibt.

      Die Lösung der als Ödipuskomplex beschriebenen Situation findet nicht durch Identifizierung mit einem Elternteil statt, sondern durch Verinnerlichung einer Situation in einer Gruppe aus mindestens zwei Personen (den Eltern der Kleinfamilie), die sich konstruktiv austauschen. In der gelingenden Entwicklung fördert der Reizschutz durch den Austausch die Produktion von Triebwünschen und Neugieraktivität; diese wiederum fördern den Austausch mit anderen. Wer schon viele Freunde und ein gutes Beziehungsnetz hat, erwirbt leichter weitere Freunde als der Einsame, der beim ersten Kontakt seine gesamten Bedürfnisse auf ein dann entsprechend überschätztes Objekt richtet und im Zusammenbruch seiner Erwartungen in eine Krise gerät, die seine Rückzugsneigungen und regressiven Wünsche verstärkt.

       Entwicklungsrisiken

      Wenn Eltern keine stabile Beziehung haben, wenn die Mutter, die ein Kind versorgen soll, nicht ausreichend gut von ihrer Umwelt gestützt wird und mit ihr in stabilem Austausch steht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie bereits zu Beginn der Entwicklung dem Kind keinen ausreichenden Reizschutz bieten kann. Die typischen, statistisch nachgewiesenen Risikofaktoren wie z. B. Sucht eines Elternteils oder Geschwistergeburt in einem Abstand von weniger als einem Jahr belegen diesen Einfluss ebenso wie die seit langem bekannte Verknüpfung zwischen Zufriedenheit der Eltern und seelischer Anfälligkeit der Kinder. „Zufriedenheit“ ist eine seelische Folge angemessener Austauschsituationen. So bieten „zufriedene Hauseltern“ die günstigsten Möglichkeiten für die Entwicklung psychisch stabiler Kinder; „zufriedene berufstätige Eltern“ die zweitbeste, „unzufriedene berufstätige Eltern“ die drittbeste und „unzufriedene Hauseltern“ die schlechteste.

       Autismus

      Das Versagen des frühen Reizschutzes führt in seinen extremen Formen zu autistischen Störungen. Bei den schwersten Fällen des kindlichen Autismus scheint eine organische Disposition vorzuliegen, welche es dem Kind erschwert, andere Menschen in ihren Potenzialen als Spender von Reizschutz zu nutzen. Die betreffenden Kinder nehmen keinen Kontakt auf und geraten sehr leicht in Panik, wenn z. B. eine ihrer stereotypen Handlungen unterbrochen wird oder die Ordnung in ihrem Spielzimmer ein wenig verändert ist. Während solche extremen Fälle sehr selten sind, lassen sich mildere Formen dieser Verwendung der Ordnung bei den meisten Menschen beobachten.

      Wenn sich in der Umwelt nichts ändert, wenn wir nach einer Trennung alles so wiederfinden, wie wir es verlassen haben, beruhigt und entlastet uns das. Wie sehr, das erkennen wir oft erst, wenn während unserer Abwesenheit ein Einbrecher unsere Wohnung durchwühlt oder ein Hagelsturm unseren Garten demoliert. Verletzungen der körperlichen Ordnung durch Krankheiten, Operationen sind noch belastender. Die Belastung steigt, je ausgeprägter das Trauma Grundbedürfnisse verletzt, je mehr Grundbedürfnisse verletzt werden und je nachlässiger sich die Umwelt nach dem Trauma um Wiedergutmachung bemüht.

      So wird der Einbruch belastender, wenn die Versicherung nicht zahlt und die Polizei dem Beraubten vermittelt, er sei durch eigene Nachlässigkeit an dem Geschehen beteiligt. Wenn eine Vergewaltigung ein extrem traumatisierendes Ereignis sein kann, liegt das auch daran, dass eine Frau von einem Mann, den sie sich als Beschützer wünschte, missbraucht worden ist und anschließend häufig aus ihrer Umwelt absurde Vorwürfe