Annemarie Bauer

Im Bauch des Wals


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Traumen vorauszusehen und zu vermeiden, verstärkt traumatische Erfahrungen massiv. Hier wurzelt ein sozialer Mechanismus, der für die Traumatisierten höchst verhängnisvoll sein kann: Um sich zu entlasten und eigene Fantasien, Wiedergutmachung leisten zu müssen, abzuwehren, werden Traumatisierte durch Schuldzuweisungen erneut verletzt.

      Um sich diesem Prozess zu entziehen, setzen nicht wenige Traumatisierte ihre seelischen Verletzungen, an denen sie sich schuldig fühlen, in körperliche um. Wenn die Spannung durch innere, unsichtbare Unordnung unerträglich wird und seelisches Leid mit Erfahrungen der Abwertung und Schuldzuschreibung verknüpft wird, beruhigt eine sichtbare Wunde. Daher die Neigung vieler in dieser Weise belasteter Menschen, sich selbst Verletzungen zuzufügen, sich mit scharfen Klingen zu schneiden, sich Haare auszureißen oder Nägel zu kauen.

      Die Regression auf archaische Ordnungsbedürfnisse bestimmt auch viele Symptome der Zwangskranken. Diese werden süchtig nach Handlungen, die geeignet scheinen, auf einfache Weise einen unordentlichen Zustand (schmutzige Hände) in einen ordentlichen (saubere Hände) zu verwandeln. Die Sucht auf die Entlastung von der Angstspannung drückt sich dann in der Wiederholung der entspannenden Aktion aus.

       Einsamkeit und Teilnahme

      Der Zwangskranke versucht sich in einer Pseudo-Selbstbestimmung völlig allein mithilfe seiner Rituale zu stabilisieren. Er meidet einen Dialog mit anderen, in dem er sich mit seinen Gefühlen anvertrauen und die einsame Kontrolle über seine Innenwelt durch die Kontrolle im Gespräch, im Austausch mit anderen ergänzen müsste.

      Der Mensch verfügt über die Fähigkeit, Fantasiewelten aufzubauen, Erinnerungen zu betrachten (sie „widerzuspiegeln“, zu reflektieren) und mit der Hilfe solcher Entwürfe sowohl sich selbst wie auch die Wirklichkeit zu verändern. Das bedeutet unter anderem auch, dass er sich selbst traumatisieren kann, indem er sich von der seelisch notwendigen, aber körperlich entbehrlichen Funktion des Austauschs mit anderen abschneidet. Was einem nicht zur Reflexion begabten Organismus nur ausnahmsweise gelingt, wird für den Menschen zu einem schwerwiegenden Problem. Je mehr Bildung, Information, mediale Durchdringung der Umwelt, desto größer auch das Risiko der Selbsttraumatisierung.

      Das Individuum braucht den Spiegel des anderen, um die für den Einzelnen kaum lösbare Aufgabe zu bewältigen, eine in der Fantasie entworfene Wertwelt mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen.

      Nehmen wir das Abendgespräch eines Paares: Der Mann erzählt von seiner Arbeit, von dem Kollegen, der sich als tückischer Konkurrent entpuppt, die Frau erzählt von ihrer Arbeit, von ihrer Kollegin, bei der ein Brustkrebs diagnostiziert worden ist; beide versuchen, indem sie einander zuhören, die Betroffenheit des anderen zu teilen, ohne doch selbst direkt betroffen zu sein. Ziel des Gesprächs ist, die Störung in die Normalität zu integrieren, die Last, dass es im Leben niemals glatt geht und wir jeden Tag mit Botschaften konfrontiert sind, die uns auf der Fantasieebene oder aber auch bereits in der Realität bedrohen, gemeinsam zu tragen.

      Die entlastende Funktion solcher Gespräche beruht darauf, dass die Ebenen der Realität und der Fantasie getrennt bleiben. Dadurch lässt sich eine Gefahr eingrenzen. Die Frau lässt sich von ihrem Partner überzeugen, dass dank ihres glücklichen Sexuallebens oder weil sie ihre Kinder – anders als die Freundin – gestillt hat, keine Krebsgefahr besteht. Der Mann glaubt ihr, dass sein bösartiger Rivale keine Chance hat, die Hochschätzung zu gefährden, die ihm vonseiten des Chefs gehört. Beide Ergebnisse können illusionär sein; menschliche Zuversicht ist häufig wenig mehr als das, was Ibsen „Lebenslüge“ nannte.

       Schnelle Entwertung und langsame Besinnung

      Die narzisstische Krise, die sich im explosiven Narzissmus zu ihrem Extrem steigert, wird von der Schnelligkeit geprägt, mit der das Individuum auf Kränkungen antworten zu müssen glaubt. Der jähe Wutausbruch, die wütende, entwertende Beschimpfung werden im Alltag meist mit Phrasen gerechtfertigt, die sie sozusagen als allgemeinmenschliche Reaktion ausgeben, die in diesem Fall leider nur zu rasch erfolgt sei. Dem prügelnden Ehemann ist „die Hand ausgerutscht“, dem entwertenden Chef „der Gaul durchgegangen“, die tellerwerfende Ehefrau ist „temperamentvoll“.

      Als universelle Gegenmittel werden von den Weisheitslehrern seit der griechischen Antike Besonnenheit, Mäßigung und Gleichmut gepredigt; in der jüdisch-christlichen Tradition auch noch Nächstenliebe. Der biblische Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ enthält auch einen Kern zum Verständnis des menschlichen Narzissmus: Es ist weder möglich, Nächstenliebe durch Strafe, Kritik oder Anleitung zum Selbsthass zu fördern (wie es nicht selten in der „schwarzen Pädagogik“ der Frommen geschieht), noch kann Nächstenliebe gelingen, wenn die narzisstische Kränkung das eigene Selbst zum Gegenstand eines wütenden Hasses macht, der dann so schnell wie möglich nach außen abgeführt werden muss.

      Frau A. kommt abends erschöpft von einem langen Arbeitstag nach Hause. Ihre erwachsene Tochter B. hat vor einigen Wochen das Abitur bestanden und geht jetzt die Zeit bis zum Beginn des Studiums fast jede Nacht tanzen. Sie schläft dann lange, steht irgendwann auf, kocht sich eine kleine Mahlzeit und ist schon wieder mit ihren Freundinnen unterwegs, sobald die Mutter nach Hause kommt. Der Vater ist vor fünf Jahren ausgezogen und inzwischen mit einer jüngeren Frau verheiratet.

      An diesem Tag spürt die Mutter, wie angesichts des abgegessenen Tellers und des mit Speiseresten verklebten Topfes in der unaufgeräumten Küche die Wut in ihr hochsteigt. Sie arbeitet den ganzen Tag, um für die Familie Geld heranzuschaffen; die Tochter tut keinen Strich und verlangt von der Mutter auch noch, ihren Dreck wegzuräumen. Das soll der Dank sein? Das soll gerecht sein?

      Die Mutter hat die Fantasie, den ganzen Dreck zu nehmen, und ihn der Tochter aufs Bett zu schmeißen: dann muss diese, wenn sie nach Hause kommt, auch einen Saustall aufräumen, das ist nur gerecht. Oder soll sie die Tür abschließen, damit das Schwein nicht hereinkommt und wieder die Wohnung verdreckt? Dann wird die Tochter klingeln, es wird eine Szene geben, die Nachbarn … Soll sie versuchen, die Tochter über das Handy zu erreichen und sie zur Rede zu stellen?

      Frau A. ist eine durchschnittlich gute Mutter; seit ihrer Scheidung leidet sie manchmal an Depressionen und bricht Männerbeziehungen ab, sobald sie den Verdacht schöpft, wieder an jemanden geraten zu sein, der sie ausnützt. Sie war ein sehr braves Kind, das den durch ein Flüchtlingsschicksal belasteten Eltern keine Probleme machte und es daher oft ungerecht findet, manchmal aber auch stolz darauf ist, dass ihre Tochter ganz anders ist – anspruchsvoller, erfolgreicher bei Männern.

      In der beschriebenen Situation wird der Wutanfall dadurch ausgelöst, dass die Mutter aufhört, auf die Tochter stolz zu sein. Der Stolz auf etwas ist ein Ausdruck davon, dass ich eine Fantasie zur Stützung meiner Grandiosität verwerten kann – ich bin stolz, ein Deutscher, ein Mann, ein guter Vater, ein erfolgreicher Kaufmann zu sein, ich bin stolz auf wohlgeratene Kinder.

      Je schneller die Kränkungswut abgeführt werden muss, desto größer ist auch die Gefahr einer kannibalischen Entwicklung. In dieser führt die narzisstische Krise zu Folgen, die ihre Auslöser vermehren. Die Wut über das Versagen der Zufuhr vermindert die Zufuhr. Wenn die Mutter sofort ihre Tochter entwertet, sei es durch eine kränkende Aktion, sei es durch eine Kontaktaufnahme im Zustand der ungebremsten Wut, wächst die Gefahr, dass auch die Tochter zurückschlägt.

      Ebenso problematisch ist es, gar nicht zu reagieren, das Geschirr zu spülen und die Wut unbewusst zu machen. So entstehen schwere, aus ihren Auslösern nicht mehr verstehbare Depressionen. Der überlastete Organismus kann die Störung der Kränkungsverarbeitung irgendwann nicht mehr kompensieren, die Produktion von körpereigenen Botenstoffen wird beeinträchtigt, die Schädigung greift in das Übergangsfeld von Psyche und Soma hinein.

      Da Frau A. eine durchschnittlich gute Kränkungsverarbeitung hat und nicht an einem Borderline-Syndrom leidet, tut sie nichts von dem, was ihr die erste Wut eingegeben hat. Ihr fällt ein, dass B. durchaus abspült, wenn man es mit ihr vereinbart. Der Stolz auf ihre Tochter kehrt zurück, es ist doch ein gutes Kind, von dem