Dolly in Kittys hübsches, rosafarbenes, mit Figürchen von vieux saxe1 geschmücktes Zimmerchen trat, das ebenso hübsch, rosig und heiter aussah, wie es Kitty selbst noch vor zwei Monaten gewesen war, da erinnerte sie sich daran, wie sie beide zusammen im vorigen Jahre dieses Zimmerchen eingerichtet hatten, mit welcher Lust und Liebe! Es war ihr, wie wenn eine eisige Hand nach ihrem Herzen griffe, als sie nun Kitty erblickte, die auf einem niedrigen Stuhle unmittelbar neben der Tür saß und ihre starren Augen auf eine Ecke des Teppichs gerichtet hielt. Kitty sah zu ihrer Schwester auf; aber der kalte, finstere Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht.
»Ich gehe jetzt und werde lange das Haus nicht verlassen können, und du wirst nicht zu mir kommen dürfen«, sagte Dolly und setzte sich neben sie. »Ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«
»Worüber?« fragte Kitty hastig und hob erschrocken den Kopf in die Höhe.
»Worüber sonst als über deinen Kummer?«
»Ich habe keinen Kummer.«
»Rede nicht so, Kitty! Meinst du wirklich, das könnte mir verborgen bleiben? Ich weiß alles. Aber glaube mir, die Sache ist so geringfügig. Wir haben alle so etwas durchgemacht.«
Kitty schwieg; ihr Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.
»Er ist nicht wert, daß du dich so um ihn grämst«, fuhr Dolly fort, um geradenwegs zur Sache zu kommen.
»Du meinst, weil er mich verschmäht hat«, erwiderte Kitty; ihre Stimme bebte. »Sprich nicht davon, bitte, sprich nicht davon!«
»Wer hat dir denn das gesagt? So etwas hat kein Mensch gesagt. Ich bin überzeugt, daß er in dich verliebt war und auch jetzt noch in dich verliebt ist; aber ...«
»Ach, am allerschrecklichsten ist mir dieses Bedauertwerden!« rief Kitty in plötzlich ausbrechendem Zorn. Sie drehte sich auf dem Stuhle hin und her, errötete und arbeitete hastig mit den Fingern, indem sie bald mit der einen, bald mit der anderen Hand an der Gürtelschnalle drückte, die sie fest gefaßt hielt. Dolly kannte diese Angewohnheit ihrer Schwester, mit den Händen um sich zu greifen, wenn sie in Hitze geriet; sie wußte, daß Kitty in solchen Augenblicken der Aufregung imstande war, sich zu vergessen und scharfe Worte zu gebrauchen, die besser ungesprochen blieben; so wollte denn Dolly sie beruhigen; aber es war bereits zu spät.
»Ja, was ... was willst du mir denn damit zu verstehen geben?« sagte Kitty hastig. »Meinst du, ich hätte mich in einen Menschen verliebt, der nichts von mir wissen will, und ich stürbe nun an dieser Liebe zu ihm? Und das sagt mir meine Schwester und glaubt dabei, daß ... daß ... daß sie mir ihre Teilnahme ausdrückt! Ich mag dieses erheuchelte Mitleid nicht!«
»Kitty, du bist ungerecht.«
»Warum quälst du mich?«
»Aber ich will ja ganz im Gegenteil ... Ich sehe, du bist erbittert.«
Aber Kitty hörte in ihrer Aufregung gar nicht auf sie.
»Ich habe gar keinen Grund, mich zu grämen und mich trösten zu lassen. Ich besitze meinen Stolz, und es wird mir nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt.«
»Aber das sage ich ja auch gar nicht«, suchte Dolly sie zu beschwichtigen und ergriff ihre Hand. »Nur eines möchte ich dich fragen, aber sage mir die Wahrheit! Sag, hat Ljewin mit dir gesprochen?«
Diese Erinnerung an Ljewin schien der armen Kitty den Rest von Selbstbeherrschung zu rauben; sie sprang vom Stuhle auf, schleuderte die Schnalle auf den Boden und rief unter wilden Handbewegungen ihrer Schwester zu:
»Was soll dabei nun noch Ljewin? Ich verstehe nicht, was du davon hast, mich zu quälen! Ich habe dir schon gesagt und sage es noch einmal, daß ich meinen Stolz besitze und niemals, niemals imstande wäre, zu tun, was du tust: zu einem Manne zurückzukehren, der dir untreu geworden ist und sich in eine andere Frau verliebt hat. Dafür habe ich kein Verständnis! Du kannst das, aber ich kann es nicht!«
Nachdem sie diese Worte hervorgesprudelt hatte, warf sie einen Blick auf ihre Schwester, und als sie sah, daß diese schwieg und traurig den Kopf sinken ließ, da setzte sich Kitty, anstatt, wie sie beabsichtigt hatte, aus dem Zimmer zu gehen, wieder auf den Stuhl an der Tür, verbarg ihr Gesicht im Taschentuche und beugte den Kopf tief hinunter.
Das Schweigen dauerte mehrere Minuten. Dolly dachte an sich selbst. Ihre Demütigung, die sie stets empfand, war ihr dadurch, daß die Schwester sie daran erinnert hatte, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gekommen. Eine solche Grausamkeit hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte ihr deswegen. Aber plötzlich hörte sie das Rascheln eines Kleides und zugleich den Ton eines hervorbrechenden und dann verhaltenen Schluchzens; zwei Arme umschlangen von unten her ihren Hals. Kitty lag vor ihr auf den Knien.
»Liebe Dolly! Ich bin ja so unglücklich, so unglücklich!« flüsterte sie reumütig.
Und sie verbarg ihr liebes, von Tränen überströmtes Gesichtchen in Dollys Schoße.
Als ob die Tränen das unentbehrliche Öl wären, ohne das die Maschine des wechselseitigen Verkehrs zwischen den beiden Schwestern nicht ordentlich gehen könnte, setzten sie, nachdem sie sich ausgeweint hatten, ihr Gespräch fort, und obwohl sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Wichtigste war, sondern von Nebendingen, so verstanden sie einander doch vollkommen. Kitty fühlte, daß das, was sie im Zorn über die Untreue von Dollys Mann und über deren Erniedrigung gesagt hatte, ihre arme Schwester im tiefsten Herzen verwundet haben mußte, daß aber diese es ihr verziehen habe. Dolly ihrerseits kam über alles ins klare, was sie hatte wissen wollen; sie überzeugte sich nun, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren und daß Kittys Kummer, Kittys unheilbarer Kummer eben darin bestand, daß Ljewin ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgewiesen und Wronski sie getäuscht hatte und sie nun bereit war, Ljewin zu lieben und Wronski zu hassen. Aber Kitty sagte darüber kein Wort; sie sprach nur von ihrem Seelenzustand.
»Kummer habe ich gar nicht«, sagte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Aber du kannst dir wohl denken, daß mir alles verächtlich, widerwärtig, zum Ekel geworden ist und zuallererst ich mir selbst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für abscheuliche Gedanken ich jetzt über alle Dinge habe.«
»Was für abscheuliche Gedanken kannst du denn haben?« fragte Dolly lächelnd.
»Die allerabscheulichsten und garstigsten; ich kann es dir gar nicht sagen. Es ist bei mir nicht Gram oder Verdruß, sondern etwas weit Schlimmeres. Es ist, als ob alles, was in mir Gutes war, sich versteckt hätte und nur das Abscheulichste zurückgeblieben wäre. Ja, wie soll ich dir das nur deutlich machen?« fuhr sie fort, als sie den Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen der Schwester wahrnahm. »Sobald Papa mit mir zu sprechen anfängt, habe ich sofort die Vorstellung, als dächte er einzig und allein daran, daß ich mich verheiraten müsse. Oder wenn Mama mich auf einen Ball führt, so bilde ich mir ein, daß sie das lediglich tut, um mir möglichst schnell einen Mann zu verschaffen und mich los zu werden. Ich weiß, daß das alles nicht wahr ist; aber ich kann mich von diesen Gedanken nicht frei machen. Die sogenannten Heiratskandidaten mag ich gar nicht ansehen. Ich habe eine Empfindung, als ob sie mir Maß nähmen. Früher war es für mich ein harmloses Vergnügen, im Ballkleid irgendwohin zu fahren; ich freute mich über meine eigene Erscheinung; aber jetzt schäme ich mich und fühle mich verlegen. Nun, und was sagst du dazu: der Arzt ... Ja, und ...«
Kitty stockte; sie hatte noch weiter sagen wollen, daß, seitdem in ihrem Inneren sich diese Veränderung vollzogen habe, auch Stepan Arkadjewitsch ihr in unerträglichem Maße unangenehm geworden sei und daß sein Anblick bei ihr stets die häßlichsten, widerwärtigsten Vorstellungen erwecke.
»Ja, das ist es«, fuhr sie fort. »Alles erscheint mir im garstigsten, häßlichsten Lichte. Das ist meine Krankheit. Vielleicht geht es vorüber.«
»Du mußt nicht daran denken.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Nur wenn ich mit den Kindern zusammen bin, fühle