alle Mühe, von anderen Dingen zu reden und nach rechts und links zu blicken; aber dabei dachten sie doch unaufhörlich einzig und allein an das, was dort auf dem Berg vorging, und wandten ihre Augen fortwährend nach den am Horizont auftauchenden Flecken hin, die sie als feindliche Truppen erkannten. Das Wetter hatte sich nach dem Mittag wieder aufgehellt; die Sonne senkte sich in klarem Glanz über der Donau und den sie umgebenden dunklen Bergen herab. Die Luft war still, und von der Anhöhe, die der Feind besetzt hatte, klangen mitunter Hornsignale und Geschrei zu den Unsrigen herüber. Zwischen der Eskadron und den Feinden befand sich jetzt niemand mehr als einige kleine Patrouillen. Ein freier Raum von etwa achthundert Schritten lag zwischen der Eskadron und den Franzosen. Der Feind schoß nicht mehr, und nur um so deutlicher machte sich jene strenge, drohende, unnahbare und dabei undefinierbare Grenzlinie fühlbar, welche zwei feindliche Heere voneinander trennt.
»Einen Schritt über diese Grenze, diese mahnende Grenze hinaus, welche die Lebenden von den Toten trennt, und – man kennt kein Leid mehr, ist tot. Und was ist dort? wer ist dort? Dort hinter diesem Feld und dem Baum und dem von der Sonne beschienenen Dach? Niemand weiß es, und doch möchte es jeder wissen; jeder fürchtet sich, diese Grenze zu überschreiten, und doch möchte er es tun; er weiß, daß er sie früher oder später wird überschreiten müssen und erfahren wird, was dort, jenseits dieser Grenze ist, ebenso wie er unweigerlich erfahren wird, was dort, jenseits des Grabes ist. Aber dabei ist man doch sowohl selbst stark und gesund und froh und erregt, als auch von ebenso gesunden, erregten, lebensfrohen Menschen umgeben.« So denkt jeder Mensch, der sich dem Feind gegenüber befindet, oder wenn er nicht so denkt, so fühlt er wenigstens so, und dieses Gefühl verleiht allen Vorgängen in solchen Augenblicken einen besonderen Glanz und dem Eindruck, den sie hervorbringen, eine froh stimmende Schärfe.
Auf dem Hügel bei den Feinden erschien ein Rauchwölkchen von einem Schuß, und eine Kanonenkugel flog pfeifend über die Köpfe der Husareneskadron hin. Die Offiziere, die zusammengestanden hatten, ritten an ihre Plätze. Die Husaren bemühten sich eifrig, ihre Pferde in Reih und Glied zu halten. Alles schwieg in der Eskadron. Alle blickten nach vorn auf den Feind und auf den Eskadronchef, in Erwartung seines Kommandos. Eine zweite, eine dritte Kugel flog vorbei. Es war offenbar, daß der Feind auf die Husaren zielte; aber die Kugeln flogen mit gleichmäßigem, schnellem Pfeifen über die Köpfe der Husaren weg und schlugen irgendwo hinter ihnen ein. Die Husaren sahen sich nicht um; aber bei jedem Ton einer vorüberfliegenden Kugel hob sich wie auf Kommando die ganze Eskadron mit ihren bei aller Verschiedenheit doch so gleichförmigen Gesichtern, den Atem anhaltend, solange die Kugel flog, ein wenig in den Steigbügeln in die Höhe und ließ sich dann wieder zurücksinken. Ohne den Kopf zu drehen, schielten die Soldaten einer nach dem andern hin und beobachteten neugierig, welchen Eindruck die Sache auf die Nebenmänner machte. Auf jedem Gesicht, von Denisow bis zum Hornisten, zeigte sich um Lippen und Kinn herum ein und derselbe gemeinsame Zug, ein Ausdruck von Kampflust, Spannung und Erregung. Der Wachtmeister sah die Soldaten mit finsterem Gesicht an, wie wenn er ihnen eine Strafe androhte. Der Junker Mironow bückte sich jedesmal, wenn eine Kugel vorüberflog. Rostow war auf dem linken Flügel der Eskadron und saß auf seinem »Raben«, dessen Beine zwar nicht recht zuverlässig waren, der aber recht stattlich aussah; der junge Mann machte ein so glückliches Gesicht wie ein Schüler, der in Gegenwart eines großen Publikums beim Examen aufgerufen wird und bestimmt weiß, daß er sich auszeichnen wird. Mit heller, heiterer Miene blickte er rings um sich alle an, wie wenn er sie bitten wollte, darauf zu achten, wie ruhig er den Kugeln zum Trotz dastand. Aber auch auf seinem Gesicht zeigte sich in der Mundpartie unwillkürlich eben jener Zug, der auf ein neuartiges, ernstes Gefühl schließen ließ.
»Wer bückt sich da? Junker Mironow! Das paßt sich nicht! Sehen Sie auf mich!« schrie Denisow, der nicht auf einem Fleck bleiben konnte und vor der Front der Eskadron hin und her sprengte.
Waska Denisows Gesicht mit der aufgestülpten Nase und dem schwarzen Haar und seine gesamte kleine, kräftige Gestalt mit der sehnigen, kurzfingrigen, behaarten Faust, in der er den Griff des blank gezogenen Säbels hielt, das alles sah ganz genau ebenso aus wie immer, namentlich abends, wenn er seine zwei Flaschen Wein getrunken hatte. Er war nur noch röter als gewöhnlich, und nachdem er seinen zottigen Kopf, wie Vögel beim Trinken, in die Höhe gereckt und mit seinen kleinen Füßen dem braven »Beduinen« schonungslos die Sporen in die Seite gedrückt hatte, galoppierte er, mit dem Oberkörper nach hinten fallend, nach dem andern Flügel der Eskadron und schrie mit heiserer Stimme, die Leute sollten ihre Pistolen noch einmal nachsehen. Er kam in die Nähe des Vizerittmeisters Kirsten. Dieser ritt auf seiner breit gebauten, kräftigen Stute dem Rittmeister im Schritt entgegen. Der Vizerittmeister mit seinem langen Schnurrbart war ernst wie immer; nur seine Augen glänzten stärker als gewöhnlich.
»Was hilft das alles!« sagte er zu Denisow. »Zum Schlagen kommt es doch nicht. Du wirst sehen, wir müssen wieder zurückgehen.«
»Weiß der Teufel, was sie für Geschichten machen!« brummte Denisow. »Ah, Rostow!« rief er dem Junker zu, als er dessen fröhliches Gesicht bemerkte. »Na, nun ist's da, worauf du so lange gewartet hast.«
Er lächelte beifällig, offenbar erfreut über die Haltung des Junkers. Rostow fühlte sich völlig glücklich. In diesem Augenblick erschien ein höherer Kommandeur auf der Brücke. Denisow galoppierte zu ihm hin.
»Exzellenz! Erlauben Sie, daß wir attackieren! Ich werde sie in die Flucht jagen!«
»Was reden Sie von Attackieren!« erwiderte der höhere Kommandeur in verdrießlichem Ton und zog das Gesicht in Falten, wie wenn ihn eine Fliege belästigte. »Wozu halten Sie denn hier noch? Sie sehen ja, daß die Tirailleure sich zurückziehen. Führen Sie die Eskadron zurück!«
Die Eskadron überschritt die Brücke und kam außer Schußweite, ohne auch nur einen Mann verloren zu haben. Hinter ihr ritt auch die zweite Eskadron, welche auf Vorposten gewesen war, herüber, und auch die letzten Kosaken räumten das jenseitige Ufer.
Die beiden Pawlograder Eskadronen gingen, nachdem sie die Brücke überschritten hatten, eine hinter der andern wieder bergauf zurück. Der Regimentskommandeur Karl Bogdanowitsch Schubert ritt zu Denisows Eskadron heran und kam im Schritt nicht weit von Rostow vorüber, ohne ihn im geringsten zu beachten, obwohl sie nach dem Renkontre in der Teljaninschen Affäre einander jetzt zum erstenmal wiedersahen. Rostow, der sich hier in der Front in der Gewalt des Mannes fühlte, gegen den er sich, wie er jetzt urteilte, vergangen hatte, verwandte kein Auge von dem herkulischen Rücken, dem blonden Hinterkopf und dem roten Hals des Regimentskommandeurs. Mitunter hatte Rostow die Vorstellung, daß Bogdanowitsch sich nur so stelle, als ob er ihn gar nicht beachte, und daß seine ganze Absicht jetzt darauf hinauslaufe, zu sehen, wie es mit seiner, des Junkers, Tapferkeit stehe; und dann richtete Rostow sich gerade auf und blickte fröhlich um sich. Bald wieder kam es ihm so vor, als ob Bogdanowitsch absichtlich in seine Nähe komme, um ihn seine, des Regimentskommandeurs, Tapferkeit sehen zu lassen. Und dann wieder kam ihm der Gedanke, sein Feind werde die Eskadron jetzt absichtlich in eine tollkühne Attacke hineinschicken, um ihn, Rostow, zu bestrafen. Und dann wieder malte er es sich aus, wie nach der Attacke der Regimentskommandeur zu ihm treten und ihm, dem Verwundeten, großmütig die Hand zur Versöhnung reichen werde.
Die den Pawlogradern wohlbekannte Gestalt Scherkows mit den hochgezogenen Schultern (der Kornett war vor einigen Tagen zum zweitenmal aus dem Regiment ausgeschieden) näherte sich zu Pferd dem Regimentskommandeur. Scherkow war, nachdem man ihn aus dem Hauptquartier weggejagt hatte, nur kurze Zeit beim Regiment geblieben. Er hatte gesagt, er würde doch nicht so dumm sein und sich im Frontdienst abplagen, während er beim Stab, ohne etwas zu tun, ein besseres Avancement haben könne, und hatte es einzurichten verstanden, daß er beim Fürsten Bagration Ordonnanzoffizier geworden war. Nun kam er zu seinem früheren Regimentskommandeur mit einem Befehl von dem Kommandeur der Arrieregarde.
»Oberst«, sagte er mit finsterem Ernst, indem er sich zu Rostows Feind wandte und dabei seinen Blick auch über seine früheren Kameraden schweifen ließ, »es ist befohlen worden, haltzumachen und erst die Brücke anzuzünden.«
»Wer hat das befohlen?« fragte der Oberst ingrimmig.
»Das weiß ich nicht, Oberst, wer das befohlen hat«, antwortete der Kornett ernst. »Ich kann nur sagen, daß mir der Fürst befohlen hat: ›Reite