Лев Толстой

Krieg und Frieden


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mit einem Schluß versehen hatte, und die sie sich in Gedanken gern immer wieder erzählte. In dieser Geschichte kam vor, wie vor ein verführtes Mädchen plötzlich ihre arme Mutter, sa pauvre mère, hintrat und ihr Vorwürfe machte, weil sie sich ohne Ehe einem Mann hingegeben hatte. Mademoiselle Bourienne wurde oft bis zu Tränen gerührt, wenn sie in Gedanken »ihm«, dem Verführer, diese Geschichte erzählte. Und nun war dieser »er«, ein echter russischer Fürst, erschienen; der werde sie entführen, und dann werde die arme Mutter erscheinen, und der Fürst werde sie heiraten. So legte sich Mademoiselle Bourienne im Kopf ihr ganzes zukünftiges Leben zurecht, während sie gleichzeitig sich mit »ihm« über Paris unterhielt. Mademoiselle Bourienne ließ sich dabei nicht durch besondere Berechnungen leiten (sie dachte nicht einmal einen Augenblick darüber nach, was sie nun zu tun habe), sondern sie hatte ihr gesamtes Verhalten schon längst sozusagen gebrauchsfertig daliegen und brachte es jetzt einfach bei dem auf der Bildfläche erschienenen Anatol zur Anwendung, dem sie so viel als möglich zu gefallen wünschte und sich bemühte.

      Der kleinen Fürstin aber ging es wie einem alten Kavalleriepferd, das den Klang der Trompete hört und zum Galopp ansetzt: ohne sich dessen bewußt zu werden und ohne an ihren Zustand zu denken, griff sie zu den gewohnten Künsten der Koketterie, ohne jeden Hintergedanken und ohne die Absicht, mit jemand um den Preis zu ringen, lediglich in harmloser, leichtsinniger Fröhlichkeit.

      Trotzdem Anatol sich in weiblicher Gesellschaft gewöhnlich das Ansehen gab, als seien ihm die eifrigen Bemühungen der Frauen um ihn zuwider, fühlte er doch bei der Wahrnehmung des Eindrucks, den er auf diese drei Damen gemacht hatte, seine Eitelkeit angenehm gekitzelt. Außerdem begann sich bei ihm der hübschen, herausfordernden Mademoiselle Bourienne gegenüber jenes leidenschaftliche, animalische Gefühl zu regen, das ihn immer mit außerordentlicher Schnelligkeit überkam und zu den ärgsten und tollkühnsten Handlungen hinriß.

      Die Gesellschaft begab sich nach dem Tee ins Sofazimmer, und man bat die Prinzessin, doch etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Anatol stand, sich auf das Klavier stützend, ihr gegenüber, neben Mademoiselle Bourienne, und seine fröhlichen, lachenden Augen blickten die Prinzessin Marja an. Prinzessin Marja merkte mit qualvoller und zugleich freudiger Erregung, daß seine Blicke auf sie gerichtet waren. Durch ihre Lieblingssonate fühlte sie sich in eine poetische Welt seelischen Empfindens versetzt, und der Blick, den sie auf sich ruhen fühlte, verlieh dieser Welt einen noch höheren poetischen Reiz. Indessen bezog sich Anatols Blick, obgleich er auf die Prinzessin gerichtet war, gar nicht auf diese, sondern auf die Bewegungen von Mademoiselle Bouriennes Füßchen, das er gleichzeitig unter dem Klavier mit seinem Fuß berührte. Auch Mademoiselle Bourienne sah die Prinzessin an, und in ihren schönen Augen lag ebenfalls ein der Prinzessin Marja neuer Ausdruck, ein Ausdruck erschrockener Freude und erwachender Hoffnung.

      »Wie lieb sie mich hat!« dachte Prinzessin Marja. »Wie glücklich bin ich jetzt, und welch ein Glück steht mir noch bevor mit einer solchen Freundin und einem solchen Gatten! Wird er wirklich mein Gatte werden?« dachte sie und wagte ihm nicht ins Gesicht zu blicken, da sie immer diesen selben Blick auf sich gerichtet fühlte.

      Nach dem Abendessen, als die Gesellschaft auseinander ging, küßte Anatol der Prinzessin die Hand. Sie wußte selbst nicht, wie sie den Mut dazu fand, aber sie blickte ihm gerade in sein schönes Gesicht, das ihren kurzsichtigen Augen nahe kam. Nach der Prinzessin trat er auch zu Mademoiselle Bourienne und küßte ihr die Hand (dies war unpassend; aber er tat alles mit der größten Sicherheit, als müßte es so sein); Mademoiselle Bourienne wurde rot und blickte die Prinzessin erschrocken an.

      »Wie zartfühlend sie ist!« dachte die Prinzessin. »Denkt Amélie« (so hieß Mademoiselle Bourienne) »wirklich, ich könnte eifersüchtig werden und ihre reine Zärtlichkeit und Anhänglichkeit an mich nicht zu schätzen wissen?« Sie ging zu Mademoiselle Bourienne hin und küßte sie herzlich. Anatol trat auch zu der kleinen Fürstin, um ihr die Hand zu küssen.

      »Nein, nein, nein! Wenn Ihr Vater mir schreiben wird, daß Sie sich gut betragen, will ich Sie meine Hand küssen lassen. Aber nicht vorher.« Sie hob lächelnd den Zeigefinger in die Höhe und verließ das Zimmer.

      V

      Alle begaben sich auf ihre Zimmer; aber mit Ausnahme Anatols, der sofort einschlief, sowie er sich ins Bett gelegt hatte, schlief in dieser Nacht niemand lange.

      »Wird er wirklich mein Gatte werden? Gerade er, dieser fremde, schöne, gute Mann? Was die Hauptsache ist: dieser gute Mann!« dachte Prinzessin Marja, und eine Ängstlichkeit, die sonst fast nie über sie kam, befiel sie heute. Sie fürchtete sich, um sich zu blicken; es kam ihr vor, als stehe jemand da hinter dem Bettschirm, in der dunklen Ecke. Und diese Gestalt war der Teufel, nein, er, der Mann mit der weißen Stirn und den schwarzen Augenbrauen und dem roten Mund.

      Sie klingelte nach dem Stubenmädchen und bat sie, bei ihr im Zimmer zu schlafen.

      Mademoiselle Bourienne ging an diesem Abend noch lange im Wintergarten auf und ab; sie wartete vergeblich auf jemand und lächelte bald jemandem zu, bald rührte sie sich selbst bis zu Tränen, indem sie sich die Worte der pauvre mère vergegenwärtigte, die ihr über ihren Fehltritt Vorwürfe machte.

      Die kleine Fürstin schalt auf ihr Stubenmädchen, weil sie das Bett nicht ordentlich gemacht habe. Sie konnte weder auf der Seite noch auf dem Rücken liegen. Alles war ihr drückend und unbequem. Ihr Leib war ihr lästig. Er war ihr gerade heute lästiger als sonst je, weil Anatols Gegenwart sie lebhaft in eine andere Zeit zurückversetzte, wo dies alles noch nicht gewesen war und sie sich immer leicht und froh gefühlt hatte. Sie saß in Nachtjacke und Nachthaube auf einem Lehnstuhl. Katja, mit verschlafenem Gesicht und unordentlich sitzenden Zöpfen, schüttelte schon zum drittenmal das schwere Unterbett auf und wendete es um, wobei sie etwas vor sich hinredete.

      »Ich sage dir, es waren überall dicke Stellen und Vertiefungen«, wiederholte die kleine Fürstin. »Ich würde selbst gern einschlafen; also kann ich nichts dafür.« Ihre Stimme zitterte wie die eines Kindes, das nahe daran ist loszuweinen.

      Auch der alte Fürst schlief nicht. Tichon, der im Halbschlummer dasaß, hörte, wie sein Herr nebenan ärgerlich umherging und durch die Nase schnob. Der alte Fürst hatte die Empfindung, daß er in der Person seiner Tochter beleidigt sei. Diese Beleidigung war die allerschlimmste, weil sie nicht ihm, sondern einem andern angetan war, seiner Tochter, die er mehr als sich selbst liebte. Er hatte sich vorgenommen gehabt, diese ganze Angelegenheit gründlich zu überlegen, um zu erkennen, welche Handlungsweise Gerechtigkeit und Pflicht von ihm verlangten; aber statt dessen ereiferte er sich immer mehr.

      »Der erste beste kommt angereist, und gleich ist der Vater und alles vergessen, und sie läuft nach oben und frisiert sich und kokettiert und verleugnet ganz und gar ihr wahres Wesen! Freut sich darauf, vom Vater loszukommen! Und dabei wußte sie, daß ich es bemerken würde. Frr ... frr ... frr ...« (Er schnob.) »Und ich sehe ja doch, daß dieser dumme Junge nur für die Bourienne Augen hat! Wegjagen müßte ich das Frauenzimmer! Daß Marja nicht so viel Stolz besitzt, um zu begreifen, daß dieser Mensch für sie nicht taugt! Und gibt sie ihm nicht um ihrer selbst willen den Laufpaß, wenn sie nun einmal keinen Stolz besitzt, so sollte sie es wenigstens um meinetwillen tun. Ich muß ihr zeigen, daß dieser Lümmel an sie überhaupt nicht denkt und nur zu der Bourienne hinsieht. Sie hat keinen Stolz; aber ich werde ihr das zeigen ...«

      Der alte Fürst wußte, wenn er seiner Tochter sage, daß sie in einem Irrtum befangen sei und Anatol nur der Bourienne den Hof zu machen beabsichtige, dann werde dadurch das Ehrgefühl der Prinzessin Marja gereizt werden und er werde dann gewonnenes Spiel haben, d.h. sein Wunsch, sich von seiner Tochter nicht zu trennen, werde in Erfüllung gehen. Daher beruhigte er sich über die Sache einigermaßen.

      Er rief Tichon und begann sich auszukleiden.

      »Der Teufel hat die beiden Kerle hergebracht!« dachte er, während Tichon ihm das Nachthemd über seinen hageren, alten, auf der Brust mit grauen Haaren bewachsenen Körper zog. »Ich habe sie nicht gerufen. Sie sind hergekommen, um mir mein Leben zu zerstören. Viel übrig ist davon sowieso nicht.«

      »Hol sie der Teufel!« rief er in dem Augenblick, als sein Kopf noch mit dem Hemd bedeckt war.

      Tichon