gegenläufige Entwicklung auslösen«, schreibt unser Autor. »Die Frage ist nur, ob man sich das wünschen sollte.«
Der Rest des Buchs umkreist und variiert das Thema, recht knapp oft und doch nicht ganz ohne Überschneidungen. Von den deutschen Mythen und Helden über die deutschen Frauen, die sich heute »nüchterner und tatkräftiger« präsentierten als die Männer, streifen wir bis zum deutschen Kitsch, Humor oder Ungeist. Die Frauen übrigens kommen im ganzen Buch zu kurz. Aber, wie gesagt, überall Gescheites und Gelehrtes, einleuchtend verbunden mit dem, was wir heute hören und sehen, wenn wir in den Supermarkt um die Ecke gehen, fidelen deutschen Frührentnern mit ihren nicht selten asiatischen Zweit- oder Drittfrauen begegnen, deutsche Autowaschanlagen aufsuchen oder deutsche Fernsehsendungen verfolgen. Genau das hoffentlich, was mein amerikanischer Dozent braucht: Skizzen zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen, mit tiefem Blick in die nationale Geschichte und weitem Blick in die heutige Welt. Hans-Dieter Gelfert schließt mit einem Ausblick – die Deutschen, vereinigt, nationalstolz und dennoch verzagt, in der Mitte Europas. Vernünftig sei es, die alte deutsche Sehnsucht nach dem großen Ganzen auf das sich einigende Europa zu lenken, meint er. Da hat er wahrscheinlich recht, denke ich, und so wird es auch kommen. Aber 2006 war Fußball-WM in Deutschland, und diese Italiener … Aber das sagen die Franzosen auch. Typisch deutsch ist das nicht.
Der amerikanische Dozent ist dankbar für den Hinweis. »Mentalities« zu studieren ist an den entsprechenden Departments gerade schwer in Mode. Ich aber bin unzufrieden. Ist Gelferts Buch denn mehr als eine brillante Zusammenschau dessen, was man irgendwie doch schon wusste oder mindestens geahnt hat? Wird man der Frage »Was ist deutsch?« allein mit Soziologie und Kulturgeschichte gerecht? Gottseidank ist heute Donnerstag, mein Sporttag. Fände der Turnvater Jahn mein »Fitnesscenter« in Ordnung? Heißt deutsch sein auch, seine Runden um ihrer selbst willen zu drehen – um den Richard Wagner zugeschriebenen, immer noch recht bekannten Spruch abzuwandeln? Nach drei Stunden – ich sitze mit meinen Sportfreunden da, wo wir immer sitzen und den lebensbedrohlichen Flüssigkeitsverlust auszugleichen suchen – frage ich schüchtern: »Was ist deutsch? Eine Sache um ihrer selbst willen tun?« »Unsinn«, ruft mein Gegenüber, ein Historiker und Archivar übrigens. »Unsinn! Deutsch sein heißt, in einem sicherlich immer löchriger werdenden sozialen Netz herumzuschaukeln, beim TV-Zapping Big Macs oder Wurststullen zu verdrücken, dazu ein Getränk in sich reinzuschütten, das mit deutschem Bier nur noch den Namen gemein hat, und über die Politik, die Ausländer, die Ärzte, das Finanzamt, den allgemeinen Verfall von Moral und Anstand und natürlich über die Fußballnationalmannschaft zu schimpfen und zu jammern. Prost!« Das sei nichts Typisches, entgegnet der Dritte am Tisch, der technischer Redakteur ist und als klug und besonnen gilt. Das sei die Unterschicht, die zwar immer größer werde, ebenso wie die kulturelle und auch moralische Verwahrlosung der Mittelschichten – Deutschland jedoch sei das noch lange nicht. Die sozialen Unterschiede seien so gewaltig, dass man nur wenig Verbindendes finden werde, zu schweigen von den geografischen. Was habe ein Reeder aus alter Bremer Kaufmannsfamilie mit einem Allgäuer Bergbauern zu tun? Was der Saarländer mit dem Vorpommern? Jeder ist eine Insel. Na ja, fast jeder. Und überhaupt: DDR- und BRD-Mentalität! Also, das Land sei zerfranst und ausdifferenziert, außerdem voll in den Stürmen der Globalisierung.
»Mentalities« möge es ja geben, die Frage nach dem Typischen allerdings sei altmodisch. Aber amerikanischen Germanisten, auf die Nazizeit fixiert und immer auf der Suche nach dem Dämonischen und Irrationalen im Deutschen, denen könne man ja alles erzählen. Alt-Heidelberg! Rothenburg! Rüdesheim! Was habe das denn mit »typisch deutsch« zu tun? »Nix. Zum Wohl!« Ich werde immer stiller. Schließlich ist noch ein Vierter am Tisch, ein höherer Beamter und ein durchaus politischer Kopf. Und was der sagt, umständlich und mit treffenden Beispielen aus dem praktischen Leben, das ja, wie jeder weiß, unweigerlich irgendwann in Verwaltungsakte mündet, das klingt in der Summe dann wieder sehr nach Gelfert. Na ja, wir bestellen uns dann noch eine Runde und wenden uns anderen Themen zu. Was jetzt eigentlich typisch deutsch sein könnte, das interessiert meine deutschen Sportler offenbar nicht so sehr. Als ich mal einige Zeit in Spanien arbeitete, erinnere ich mich auf dem Heimweg, da war das anders. Ständig wurde ich mit meinem Deutschsein konfrontiert. Mit meiner damaligen Ernsthaftigkeit – zu meinen, man fragt nach dem Weg und bekommt eine zutreffende Auskunft oder wenigstens ein »Das weiß ich leider nicht«. Mit meiner Pünktlichkeit – ich war um 21 Uhr eingeladen, kam drei Minuten danach und hatte wirklich Hunger. Das war typisch deutsch! Na ja, naiv vielleicht auch. Mit meiner viel zu geringen Flexibilität – Sturkopf, »cabeza cuadrada« nannte man mich mehr als einmal. Oder gleich, wahrscheinlich meiner manchmal etwas forcierten Zielstrebigkeit wegen, »Panzer«! Lange her. Ob das alles einem nicht-deutschen Europäer heute überhaupt noch auffallen würde? Ist das nicht auch typisch europäisch? Bin ich eigentlich heute noch der Deutsche, der ich damals schon nicht so recht sein wollte? Oder ist genau diese Frage jetzt wieder typisch deutsch? Man sollte der Sache endlich auf den Grund gehen! Nietzsche lesen vielleicht?
Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München 2005: C. H. Beck Verlag. 211 S.
Aus der Zeit gefallen? Deutsche Schriftsteller jenseits der siebzig
Viele Autoren, die ihre Glanzzeit vor 1990 hatten und inzwischen in die Jahre gekommen sind, schreiben und publizieren immer noch. Manche mischen sich auch weiterhin in aktuelle Debatten ein. Lob und Anerkennung ernten sie dafür selten. Gelangweiltes Achselzucken, schroffe Ablehnung und ätzender Spott sind nicht unüblich. Wer hört auf Schriftsteller jenseits der siebzig? Sind sie nicht nur noch wunderliche Zeitzeugen oder gar leise bröckelnde Monumente ihrer selbst? Sind sie nicht »von gestern«? Passen sie noch ins 21. Jahrhundert?
Nobelpreis hin, Weltruhm her: Als Günter Grass (*1927) in seinem Band Eintagsfliegen (2012) eine ganze Reihe von hochartifiziellen, wunderbar melancholisch-lakonischen Gedichten über das Alter und das Altern veröffentlicht hatte, wurde er nur selten als großer, vielleicht sogar altersweiser Lyriker gewürdigt. Nein, die Sensation bestand darin, dass man aus einem seiner Poeme harsche Kritik an der israelischen Regierung herauslesen kann. Darf das sein? Der Tenor der aufgeregten Debatte, in der sein beachtlicher Gedichtband fast keine Rolle spielte, war deutlich: Grass nervt!
Martin Walser (*1927) legte 2011/2012 gleich zwei sprachlich brillante Altersromane vor, Muttersohn und Das dreizehnte Kapitel. Er wurde dafür durchaus gelobt. Aber meistens ging es dann doch nicht um Walsers ungeheure Wortkunst, sondern um die Frage, ob der Alte vom Bodensee nun endgültig in katholisch-mystische Verstiegenheiten abgedriftet ist. Wenn ja – wer mag »so was« dann überhaupt noch lesen? Ist dieser Walser nicht schon seit Jahrzehnten politisch verdächtig? Und überhaupt: Geistig anspruchsvolle und sprachlich komplexe Bücher lesen? Muss das sein? Große Dichter? Ach was!
Nun gut, Grass und Walser mögen die Öffentlichkeit polarisierende Ausnahmen sein. Die meisten Nachrufe auf die 2011 gestorbene Christa Wolf (*1929) waren durchaus respektvoll, und man wird kaum Abfälliges über Siegfried Lenz (*1926), Ernst Augustin (*1927), Günter de Bruyn (*1928), Günter Herburger (*1932) oder Gabriele Wohmann (*1932) hören. Eher nimmt man einen bald bedauernd, bald mitleidlos gesetzten Unterton wahr: Eure Zeit ist um! Euch muss man nicht mehr lesen! Das gilt oft sogar für Schriftsteller, die erheblich jünger sind als die Genannten. Die neuesten Bücher von Volker Braun, Friedrich Christian Delius oder Gerhard Köpf zum Beispiel sind allerbeste Literatur – aber auch leicht verderbliche Ware. Meist verschwinden sie in einem von Jahr zu Jahr rasanter werdenden Literaturbetrieb, der manchmal schon zur Leipziger Buchmessezeit nicht mehr weiß, was im Oktober in Frankfurt los war. Lebenskluge Kunstprosa? Erfahrungsgesättigte Sprachverdichtung? Brauchen wir das? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Na gut, womöglich schreiben die Alten sogar besser als vor drei Jahrzehnten. Aber muss man deshalb ihre Bücher lesen?
Schon James Joyce kämpfte im frühen 20. Jahrhundert gegen profitsüchtige Verleger, überhebliche Kritiker und ein snobistisches Literaturestablishment, die seine Kunst nicht zu würdigen wussten. Er wurde zu einer Marke. Grass und Walser sind das inzwischen auch – nationale Symbole, die es wie Philip Roth machen könnten und nichts Neues mehr schreiben müssten. Aber selbst wenn es bei Symbolfiguren nicht mehr zuallererst