Klaus Hübner

HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER


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nicht vernommenen kritischen Befragung des gesellschaftlichen Alltags. Dem Erzählungsband Unter den Linden (1974) folgt 1976 der dritte Roman: In achtzehn Kapiteln schildert Kindheitsmuster die Kindheit der Nelly Jordan und den Alltag einer deutschen Provinzstadt in der NS-Zeit. Die 1947 endenden Erinnerungen werden immer wieder mit Bildern, Gedanken und Gesprächen aus der DDR-Gegenwart konfrontiert, die mit lutherischer Gewissenhaftigkeit daraufhin überprüft wird, ob und wie weit faschistische Verhaltensweisen weiterbestehen. Der Bezugspunkt von Christa Wolfs auf Wahrhaftigkeit gerichtetem Schreiben ist die eigene persönliche Betroffenheit, ohne die die literarisch angestrebte »subjektive Authentizität« nicht möglich wäre.

      Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann (1976), gegen die sie öffentlich protestiert, wendet sich die Autorin dem »Gesprächsraum Romantik« zu. In der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) wird ein fiktives Zusammentreffen zwischen den Dichtern Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 zum Anlass, über Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Spielraum der Poesie zu sprechen. Es geht auch um die für Wolfs Gesamtwerk zentrale Frage, warum die bürgerliche Forderung nach dem »Subjektwerden des Menschen« und speziell der Frau auch im DDR-Sozialismus nicht eingelöst wurde. Die Romantik als Echo- und Spiegelraum ihrer Protagonistinnen wird bald ergänzt durch die Antike, insbesondere in der Erzählung Kassandra (1983), über deren Kontext und Entstehung die Autorin in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1982) Auskunft gibt. Mit diesen Werken, auch mit der nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verfassten Erzählung Störfall (1987) und dem Kurzroman Sommerstück (1989), wird Christa Wolf in den Achtzigerjahren zu einer Identifikationsfigur, Seelentrösterin und Moralikone der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung in beiden Teilen Deutschlands. Lesereisen führen sie unter anderem nach Skandinavien, Frankreich und in die USA, ihre Werke werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, die bedeutendsten Literaturpreise der DDR wie der BRD werden ihr zugesprochen, und als unermüdliche Unterstützerin junger Autoren der DDR erwirbt sie sich bleibende Verdienste.

      An der »Wende« ist Christa Wolf mit ihrer Rede vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, ihrer Unterschrift unter den Aufruf Für unser Land und ihrer Mitarbeit an einem Verfassungsentwurf für eine reformierte DDR maßgeblich beteiligt. Die Veröffentlichung ihrer bereits 1979 entstandenen Erzählung Was bleibt (1990) führt zum später sogenannten ersten deutsch-deutschen Literaturstreit, in dessen Verlauf der Autorin ein verträumt-romantischer Politikbegriff sowie zu große Nähe zur Staatsführung der DDR vorgeworfen wird. Als sich 1993 herausstellt, dass bei der Staatssicherheit der DDR (Stasi) nicht nur eine zweiundvierzig Bände umfassende »Opferakte« über sie vorliegt, sondern auch eine Akte, die Wolf als Informelle Stasi-Mitarbeiterin (IM) in den Jahren 1959 bis 1962 ausweist, verstört dies die Autorin nachhaltig. Ihre existenzielle Krise und die lebensgefährliche Bedrohung ihres Körpers, der zum Seismografen des Zusammenbruchs ihres Landes wird, schildert Christa Wolf in der Erzählung Leibhaftig (2002). Ihr letztes Buch Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) bringt die Ereignisse um diese Enthüllung zur Sprache. Der autobiografische Reise- und Lebensbericht, komponiert aus Tagebuchskizzen, Traumprotokollen und fiktiven Passagen, kann als schmerzliche Selbstbefragung, Lebensbeichte und Vermächtnis der Autorin gelten. In Erinnerung bleibt Christa Wolf als literarische Hüterin und Weiterentwicklerin humanistischer Traditionen und glaubwürdige Verfechterin ihrer Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft, die sich an der engen DDR-Welt des real existierenden Sozialismus aufrieb und im Kapitalismus der Nachwendezeit innerlich nie ganz angekommen ist.

      

      Als Poesie gut. Preußische Heimatkunde vom Feineren

      2005 hatte der 1926 in Berlin geborene Günter de Bruyn eine ungemein lesenswerte »Liebeserklärung an eine Landschaft« vorgelegt: Abseits. Darin erkundet er, emphatisch-poetisch und nüchtern zugleich, die zunächst unspektakuläre Wald- und Wassereinsamkeit im Landkreis Oder-Spree. Um Spuren des Lebens zwischen Storkow, Beeskow und Lübben geht es auch in Kossenblatt. »Einen Bahnhof hat es hier nie gegeben, wer aber einen einstündigen Fußmarsch nicht scheute, konnte noch vor zwei Jahrzehnten Kossenblatt doch auf dem Schienenwege erreichen.« So lautet der erste Satz, und wem die makellose Prosa Günter de Bruyns ein wenig altväterlich erscheint, der liegt nicht ganz falsch. Nur dass sie ihrem Gegenstand vollkommen angemessen ist. In Kossenblatt wohnen kaum fünfhundert Menschen, und es ist absolut nichts los. Man kann zwischen Kiefern, Erlen und Birken herumstreunen und viel Wasser samt Schleuse betrachten, den früheren Gutshof und den einstigen Dorfkrug. Nicht besichtigen kann man das dreiflügelige Barockschloss, 1702 bis 1712 errichtet, und seit 1735 zeitweilig von Friedrich Wilhelm I. von Preußen bewohnt. Es wirkt grau und verlassen wie 1862, als der von Günter de Bruyn hochverehrte Theodor Fontane wenig Erfreuliches über Kossenblatt zu berichten wusste. Die »Hoffnung auf eine baldige Wiederbelebung des Schlosses« wird, so sieht es der Autor, wohl ungehört verhallen. Ihm ist der Bau seit seinen Kindheits- und Jugendtagen ein Begriff, und so ist sein zauberhaft präziser Text auch eine Annäherung an eigene Erinnerungen und ein Baustein seiner Autobiografie. Kultur- und sozialhistorische, topografische und naturkundliche Details machen die Lektüre dieses sprachlich meisterhaften Buchs zu einem Exerzitium der Entschleunigung. Genussreicher und einleuchtender kann man nicht vorgeführt bekommen, weshalb »das Heimischwerden in einer Landschaft auch das Wissen um ihr Werden erfordert.« Bewundernswert!

      Günter de Bruyn: Kossenblatt. Das vergessene Königsschloss. Frankfurt am Main 2014: S. Fischer Verlag. 220 S.

      

      Ein Meister seiner Zunft. Günter de Bruyn wird neunzig

      Wem es vergönnt ist, sein neunzigstes Lebensjahr zu vollenden, der hat viel erlebt. Und wer wie Günter de Bruyn seit sagenhaften fünfundfünfzig Jahren als freier Schriftsteller tätig ist, blickt naturgemäß auf ein nicht gerade schmales Werk zurück. Bewunderer hat er viele, im Osten wie im Westen und auch jenseits der deutschen Grenzen. Ein glamouröser Literaturstar ist er nicht. Auch wenn es für diesen grundsoliden Bildungsbürger im Laufe der Jahre reichlich Anerkennung gab – den Büchner-Preis hat er nicht bekommen, ebenso wenig wie Wulf Kirsten, einer unserer größten Lyriker. Warum eigentlich nicht? Egal! Auszeichnungen sind oft Glückssache, und der in Berlin geborene Literat ist auch ohne Darmstädter Weihen einer der besten deutschen Prosaautoren.

      Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er noch mitmachen musste, arbeitete er als Lehrer und als Bibliothekar in und um Berlin. Nebenher entstanden Hörspiele und Erzählungen. Mit seinem bald auch in der BRD publizierten zweiten Roman Buridans Esel (1968) kam dann der Erfolg. Noch größeres Ansehen erwarb sich de Bruyn mit der Biografie Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter (1975), die auch nach der Publikationsflut im Jean-Paul-Jahr 2013 unübertroffen und glanzvoll dasteht. Dieses wundervolle Buch, das viel mehr ist als nur eine Problematisierung des Gebrauchswerts von Person und Werk Jean Pauls für die DDR, stellt die Grundlage dar für seine intensive Beschäftigung mit der Geistesepoche um 1800. Die Hinwendung zum Romantischen und Regionalen hatte in der DDR enorme kulturpolitische Bedeutung – weder de Bruyns ironische Erzählung Märkische Forschungen (1978) noch seine kenntnisreichen Kommentare zu den von ihm herausgegebenen Schriften von Fouqué, Hoffmann, Tieck und zahlreichen anderen Dichtern blieben ohne Widerspruch. Zum Kernbestand der in der DDR entstandenen Literatur gehören die Romane Preisverleihung (1972) und Neue Herrlichkeit (1984).

      Günter de Bruyn war ein angesehenes Mitglied des DDR-Schriftstellerverbands und des PEN-Zentrums, und er durfte in den Westen reisen. Mit der Staatsmacht paktierte er nicht – die Leser wie Autoren entwürdigende »Druckgenehmigungspraxis« und generell die Unfreiheit im Lande kritisierte er mehrfach deutlich. Nach der Wende legte er dar, wie es ihm als jungem Mann ergangen war: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) sind Meisterwerke der »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul). Dann aber hörte er mit dem im engeren Sinn literarischen Schreiben auf und vergrub sich ganz in seine märkischen Forschungen.

      Der Geschichte des einstigen Preußen und seiner Geburtsstadt Berlin widmete dieser liebenswürdige und