Klaus Hübner

HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER


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brillant wie eh und je wurde eine ganz spezielle, Zeithistorie mit Regionalgeschichte verschränkende, das Große im Kleinen sichtbar machende »poetische Heimatkunde« zu seinem Markenzeichen. Wie tiefgründig und reichhaltig die Meisterwerke Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 (2006) und Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807–1815 (2010) wirklich sind, ist noch lange nicht erforscht.

      Zuvor hatte er eine grandiose »Liebeserklärung an eine Landschaft« vorgelegt: Abseits (2005). Um Spuren einstigen Lebens zwischen Storkow, Beeskow und Lübben geht es öfter, auch in seiner hinreißenden poetischen Skizze Kossenblatt (2014), in der ein »vergessenes Königsschloss« im Zentrum steht – erneut eine Liebeserklärung, eine sehr melancholische allerdings. Dazu kommen Episoden aus der preußischen Historie, amüsante Bücher wie Gräfin Elisa (2012) oder Die Somnambule oder des Staatskanzlers Tod (2015).

      Das neue Werk über den romantischen Dichter Zacharias Werner (1768–1823) gehört zu seinen präzise recherchierten und bestens lesbaren Biografien, die es an Lebensweisheit getrost mit dem großen Montaigne aufnehmen können. Der aus Königsberg stammende Werner war ein maß- und rastloser, innerlich zerrissener Mann, ein durch halb Europa hetzender Getriebener mit unwiderstehlichem Drang zum Küchenpersonal. Seine sexuellen Aktivitäten verbuchte er meistens unter »Mädchenprügelei«, was den dieses Thema sonst eher meidenden Biografen zu der Erklärung veranlasst: »… ein Begriff, der vermutlich nichts mit Gewaltanwendung zu tun hat, sondern sich auf die vulgäre Bezeichnung Prügel für das männliche Geschlechtsorgan bezieht.« Die berühmte Madame de Staël immerhin hat Zacharias Werner, dessen Theaterstücke dank der Inszenierungen von August Wilhelm Iffland seit 1806 recht erfolgreich waren, ein ganzes Kapitel ihres Kultbuchs De l’Allemagne gewidmet: »Seitdem Schiller tot ist und Goethe nicht mehr für das Theater schreibt, ist Werner unter den dramatischen Schriftstellern Deutschlands der erste«, heißt es dort. Heute sind die Dramen weitgehend vergessen, ihr Urheber eigentlich auch – Günter de Bruyn aber schafft es mühelos, das Interesse neu zu entfachen. Gerade die oft kuriosen Abschweifungen in kultur- und sozialhistorische, topografische oder naturkundliche Details machen die Lektüre von Günter de Bruyns Spätwerken zum Genuss. Leseglück pur!

      Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger. Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner. Frankfurt am Main 2016: S. Fischer Verlag. 224 S.

      

      Neue Herrlichkeit? Ein polemisches Dorfidyll aus den späten Merkeljahren

      »So wie mich frühere Albträume in die Männerwelt des Militärs zurückversetzten, muss ich mich jetzt in Reih und Glied inmitten bärtiger Männer auf einem Gebetsteppich hocken sehen«, schreibt der alte Leonhardt Leydenfrost an Fatima, die aus Bosnien stammende Adoptivtochter seiner noch älteren Schwester. Diese Hedwig war als junges Mädchen eine begeisterte Jungmädelführerin gewesen, konnte sich das später nicht verzeihen und versuchte, es als »radikale Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition« wiedergutzumachen. Nun steht ihr neunzigster Geburtstag bevor, was ihr Gelegenheit verschafft, noch einmal politisch wirksam zu werden – ihre Festgäste sollen, so hat sich Fatima das ausgedacht, um Geldspenden für Flüchtlingskinder gebeten werden. Geburtstagsvorbereitungen auf dem Lande also, im idyllisch gelegenen Wittenhagen im Südosten Brandenburgs. Mittendrin Leonhardt alias Leo, dessen Lebenslauf stark an den des Schriftstellers Günter de Bruyn erinnert. Leo! Sogar im Traum hadert er mit einer Welt, die schon lange nicht mehr die seine ist. Die jungen Leute, also alle unter achtzig, grüßen mit einem aufdringlichen »Hallo!« und verhunzen auch sonst die schöne deutsche Sprache. Genderwahn allerorten, aber keiner kann mehr Uhland oder Mörike rezitieren. Die geschäftstüchtigen einstigen Genossen, die die Devise »vorwärts immer, rückwärts nimmer« zu ihrem Lebensmotto gemacht haben, kassieren erst einmal bei einem Projekt für Flüchtlinge ab und stellen, weil die Syrer und Afghanen nach Berlin und nicht »in die Wüste« wollen, dann doch lieber das protzige »Holiday Resort Seeblick« ins Dorf. Der auf geschlechtsneutrale Bibellesungen bedachte Aushilfspastor weigert sich, »Ein’ feste Burg ist unser Gott« oder andere »inkorrekte Lieder« anzustimmen, während sich seine Landeskirche den »Luxus von Dorffriedhöfen« nicht länger leisten will. Dann die Großwetterlage: die allmächtige Kanzlerin mit ihrer absurden »Willkommenskultur«, der jeder Vernunft hohnsprechende Quatsch à la »Ehe für alle!« oder »Keine Obergrenze!«, die schrillen Medien mit ihren politisch korrekten Lügen – nein, ein »ländliches Idyll« ist Wittenhagen schon lange nicht mehr. Jedenfalls nicht für Leo, den deutschen Bildungsbürger par excellence, der es niemals verwunden hat, dass sein einziger Sohn ein beinhartes SED-Mitglied geworden war und den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Leo ist die heimliche Hauptfigur dieser recht konventionell erzählten Geschichte, und angesichts seiner zeitkritischen Nörgeleien ist es schon fast Nebensache, dass die lange und umständlich geplante Geburtstagsfeier völlig anders verläuft als vorgesehen.

      Der heute zweiundneunzigjährige Günter de Bruyn, der nach der Wende Meisterwerke der »Selberlebensbeschreibung« (Jean Paul) vorgelegt hat, dann mit Herzblut und Akribie in die Kulturgeschichte Berlins und Preußens eingetaucht ist und in den letzten Jahren eine ganz besondere Art von »poetischer Heimatkunde« der Oder-Spree-Region etabliert hat, veröffentlicht, vierunddreißig Jahre nach seinem letzten Roman Neue Herrlichkeit (1984), eine 2015/16 spielende Familiengeschichte, die man getrost »Roman« nennen darf. Es ist ein durch und durch politisches Buch geworden, das mit Sicherheit höchst kontrovers aufgenommen werden wird, schon weil das liberale »juste milieu« der Bundesrepublik heftig eins auf die Mütze kriegt. Ein wichtiges Buch übers Älter- und Altwerden ist es übrigens auch. Literarisch betrachtet gibt es einiges auszusetzen, an der Zeichnung der Charaktere, an der Holzschnittartigkeit mancher Dialoge und ganz allgemein an der bisweilen ins Banale abdriftenden Sprache – man liest Sätze, die diesem stilbewussten Autor noch vor zehn Jahren nicht unterlaufen wären. Man sieht es ihm nach, weil die Inhalte wichtiger scheinen. Der neunzigste Geburtstag ist ein altmodisches, streitbares Sittenbild der späten Merkeljahre. Weniger Literatur als Kunst, eher Literatur als Waffe. Oder wenigstens: Literatur als Polemik, unausgewogen und ein wenig rechthaberisch. Was selten geworden ist in unserer wohltemperierten Gegenwart.

      Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. Frankfurt am Main 2018: S. Fischer Verlag. 269 S.

      

      Versuchte Nähe. Hans Joachim Schädlich zum Achtzigsten

      Mehr oder weniger alles, was man über den 1935 im Vogtland geborenen Hans Joachim Schädlich wissen kann, steht in der Monografie des renommierten Aachener Germanisten Theo Buck. Die erste Hälfte seines Lebens endete im Dezember 1977: Kindheit und Jugend in Reichenbach, Bad Saarow und Templin, Studium in Ost-Berlin und Leipzig, Arbeit als Sprachwissenschaftler an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zugleich erste, von der Obrigkeit misstrauisch beäugte Versuche als Prosaschriftsteller und Übersetzer, 1976 Unterzeichnung der Biermann-Petition, zuvor schon und vor allem danach Drangsalierung und Verfolgung durch die einschlägig bekannten »Organe«, West-Publikation des Erzählbands Versuchte Nähe, Ausreise in die BRD. Die Rekonstruktion von Catt, eines Fragment gebliebenen Romans aus den Siebzigerjahren, ist gerade erschienen – das Nachwort gibt Auskunft über diese eher dunkle Zeit. Vielleicht zählt auch noch die tiefe künstlerische und persönliche Krise nach 1977 dazu, die Jahre des Irgend etwas irgendwie – dies der Titel eines 1984 veröffentlichten Büchleins.

      Mit seinem von Ruth Klüger, Günter Grass, Fritz J. Raddatz und vielen anderen hoch gelobten Tallhover, zweiundachtzig Erzählsequenzen rund um einen Spitzel der Politischen Polizei, dessen Laufbahn in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts beginnt und in den Fünfzigerjahren des 20. nur scheinbar endet (1986), war Schädlich zumindest als Schriftsteller endgültig im Westen angekommen. Der in der DDR unter anderem von seinem Bruder Karlheinz alias »IM Schäfer« observierte Autor – die Spitzeltätigkeit dieses IM, der seinem Leben Ende 2007 ein spektakuläres Ende gesetzt hat, ging im Westen weiter – wurde zu einer weithin respektierten und vielfach ausgezeichneten Figur des literarischen Lebens, deren